Gründonnerstag, Lesejahr B, 14. April 2022
Ich bin schon oft gefragt worden, wieso man im Gründonnerstag immer als Lesung immer diese blutrünstige Erzählung vom Beginn des Auszugs aus Ägypten vorträgt, wo Kleinkinder getötet werden, das Nutzvieh erschlagen wird, das Blut dazu noch an die Haustüren gestrichen wird und die Menschen zur überhasteten Flucht animiert werden. – ja, diese Erzählung hat es in sich, ist keine heile Welt und kein Kindermärchen. Sie steht in der christlichen Liturgie am Beginn der drei Österlichen Tage. Aber gehört so etwas in einen Gottesdienst, wo wir zu Recht Ermutigung, Trost und Hoffnungstexte erwarten? Wo uns Gemeinschaft verheißen ist und wir auch tatsächlich – gerade am Gründonnerstag – auch Gemeinschaft erfahren dürfen.
Und doch ist es ein zentrales Ereignis der jüdisch-christlichen Glaubensgeschichte. Es erzählt von einem tiefgreifenden Konflikt eines Volksstammes in einer fremden Umgebung. Diese Minderheit wird unterdrückt und ausgebeutet, darf seine Kultur nicht leben und leidet unter der politischen Herrschaft eines autoritären Pharaos. Auf diesem historischen Hintergrund ist die Erzählung zu lesen. Es ist der Beginn eines Freiheitskampfes, der noch viele Opfer fordern wird. Auch der spätere Durchzug durch das Rote Meer, das in der Liturgie in der Osternacht dran ist, ist nicht weniger brutal. Wir müssen uns damit vertraut machen, dass unser Gottesdienst nicht nur erbauliche Worte enthält, sondern uns auch ziemlich brutal mit der Geschichte der Menschen konfrontiert.
Dabei sind wir in anderen Situationen gar nicht so zimperlich, wenn es um Blutvergießen geht. Unser Fernsehprogramm ist voll von Krimis mit Tötungsdelikten aller Art und wenn der eine Krimi vorbei ist, kommt schon der nächste und die dritten Programme liefern dann die Wiederholungen. Aber viel schlimmer noch als mit gespielten Krimis ist die Wirklichkeit unserer Nachrichtensendungen. Auch hier setzen wir uns den Katastrophenmeldungen aus aller Welt aus – aus sicherer Distanz, denn unser Haus wird nicht bombardiert. Was wäre, wenn heute aus der Ukraine nur Landschaftsbeschreibungen oder Kochrezepte gesendet würden, aber nicht die Katastrophe des Krieges? Um zu verstehen, brauchen wir die Informationen über die geschichtliche Wirklichkeit. Wir machen nicht die Augen zu. Wir informieren uns. Wir lassen uns betreffen. Und im besten Fall lassen wir uns zu konkreter Hilfe motivieren. Wir können nicht unsere Augen verschließen vor dem Unrecht und dem Elend dieser Welt.
Deshalb auch die Geschichte des Exodus – des Auszugs aus Ägypten. Immer wieder erzählt, damit die Menschen die Erfahrungen von Unterdrückung und Ausbeutung nicht vergessen und verdrängen. Dieser Prozess der Befreiung wird für das Volk Israel mit 40 Jahren angegeben – sicherlich keine historisch belegbare Zahl, sondern eher symbolisch. Eine unendlich lange Zeit, mehr als eine Generation: Befreiung ist kein Schnellschuss, sondern ein langer Weg für Menschen mit Hoffnungen, mit Träumen, aber auch mit Resignation, mit Lustlosigkeit, mit dem Wunsch, zu den guten alten Zeiten zurückzuwollen.
Wie lange hat es gedauert, bis unser Land nach dem verschuldeten 2. Weltkrieg wieder ein akzeptiertes Mitglied der Völkergemeinschaft wurde. Es brauchte ein Grundgesetz, es brauchte die Fußball-Weltmeisterschaft von 1954, es bauchte den Wiederaufbau unserer Städte, es brauchte die Aufnahme in die Vereinten Nationen – Jahrzehnte vollen Anstrengungen und Bemühungen.
An diese Konflikte und Anstrengungen erinnert sich das jüdische Volk bis heute, wenn es Pascha feiert und wir tun es heute, wenn wir Ostern feiern. Aber so weit sind wir jetzt noch nicht. Der Gründonnerstag führt uns sehr drastisch von Augen, wie sehr wir damit leben müssen, dass unsere Welt keine heile Welt ist.
Aber auch diese Feier endet nicht einfach in einem dunklen Loch. Wie keine andere Feier im Jahr ist der Gründonnerstag der Tag, an dem wir Kommunion in ganzer Fülle feiern. Nach den Zurückhaltungen in den beiden letzten Jahren könne wir auch heute wieder nicht das eucharistische Brot, sondern auch den Wein genießen. Er gehört dazu, weil er uns sehr eindringlich auf das letzte Mahl Jesu verweist, der seine Freunde nicht hat auf dem Trockenen sitzen lassen. Brot und Wein, die wir gleich hier miteinander teilen, sind ein deutlicher Hinweis darauf, dass es bei allem Hass und aller Zerstörung auch unendlich viele Zeichen der Solidarität, der Hilfsbereitschaft und der Friedensbemühungen gibt. Und die Erinnerung an dieses Zeichen Jesu kann uns heute dazu ermutigen.
Reinhard Bürger