Palmsonntag, Lesejahr 10. April 2022
Der Palmsonntag erzählt uns eine Weg-Geschichte. Weggeschichten kennen wir aus unserem Alltag. Wir gehen in den REWE und in den Lidl. Wir gehen in die Schule oder zur Arbeit oder zum Arzt. Wir gehen zu Fuß oder nehmen das Auto, Fahrrad oder die Bahn. Alltägliche Wege. Andere nicht alltägliche Wege: eine, die als Kind Missbrauch erfahren hat, geht zum Missbrauchsbeauftragten eines Bistums oder zur Staatsanwaltschaft. Andere gehen auf die Straße, um zu demonstrieren für einen Gesinnungswandel angesichts der bedrohten Schöpfung. Und andere machen sich auf Wege in eine unsichere Zukunft, weil in ihrer Heimat Raketen oder Bomben ihr Leben bedrohen. Weggeschichten sind Lebensgeschichten und jeder und jede von uns könnte persönliche Weggeschichten erzählen.
Die Weggeschichte des Palmsonntags ist noch ganz fröhlich mit Hosianna, aber wir wissen alle, dass sie ein tödliches Ende nimmt an einem Galgen am Karfreitag. Wir haben auf unserem Passionsweg uns das Leiden dem Menschen vor Augen geführt, die von Missbrauch oder Krieg betroffen sind, aber auch das Leiden der Schöpfung, die von vielen Seiten bedroht ist. Die kommenden Tage der Karwoche lenken auch von der Liturgie her den Blick auf die Todeszeichen unserer Tage. Wir erinnern uns nicht nur an das Leiden und den Tod eines Menschen vor 2000 Jahren. Wir setzen es in Verbindung zu dem Geschehen in unserer Gegenwart. Darauf macht uns der rohe Balken auf dem Altar schon die ganze Fastenzeit hindurch aufmerksam. Zudem erinnern wir uns an den zerbrochenen Balken des Schöpfungskreuzes, das in der Gebetsecke liegt. Vieles ist kaputt in unserer Welt. Viele Menschen zerbrechen daran und verzweifeln ziehen sich zurück. Andere aber entdecken ihre Kraft zum Widerstand, erheben ihre Stimme, werden mutig und handeln.
Wir haben uns auch auf diesen Weg des Palmsonntags gemacht und wir tragen grüne Zweige in den Händen. Es sind Hoffnungszeichen, klein und unscheinbar, aber Lebenszeichen, keine Todeszeichen. Mit solchen Zweigen wurde Jesus als der Sohn Davids begrüßt. Mit ihm wurde einer begrüßt, von dem sich die Menschen eine lebensbejahende Botschaft erwarteten. Sie waren die Knechtschaft der Besatzungsmacht leid und die religiöse Bevormundung durch die Schriftgelehrte und Pharisäer, die meinten, sie hätten das Meinungsmonopol und die Deutungshoheit auf die Botschaft von einem gütigen Gott.
Von daher sind die grünen Zweige eine Vorwegnahme der Erfahrung, die am Schluss dieser Woche steht: dass Lebendige wird die Oberhand behalten. So sind diese kleinen Zweige auch jetzt schon Zeichen der Hoffnung. Wir legen sie deshalb an das zerbrochene Kreuz aus dem Wald, das hier in der Kirche liegt. Und wir legen sie an den Balken auf dem Altar zu den anderen Hoffnungszeichen. (Ulrike/Martin). Deshalb wird diese Wochen für uns kein Weg in ein dunkles Loch, sondern eher ein Weg in einen dunklen Tunnel, der aber einen Ausweg kennt. Das Kreuz über unserem Altar weist auch in diese Richtung: es ist und bleibt ein Galgen, aber seine Enden sind bewusst als Blütenknospen gestaltet, eine Zeichen für noch verborgenes, aber entstehendes Leben.
Weil wir diese grünen Zweige in Händen halten oder sie zeigen, bekunden wir, dass wir offen sind, für ein Ostern, eine Botschaft vom Leben.
Indem wir diese Zweige zeigen, hoffen wir darauf, dass viele Menschen die Umkehr wagen, um unsere Schöpfung so zu gestalten, dass sie für alle Lebewesen Raum zu Leben gibt.
Indem wir diese Zweige in Händen halten, wollen wir allen Mut machen, die für den Frieden kämpfen und Gott bitten, die Menschen auf Wege des Friedens zu schicken.
Indem wir diese Zweige in Händen halten, zeigen wir, dass wir solidarisch sind mit allen Menschen, die gerade in der Kirche missbraucht und gedemütigt sind und die sich missachtet fühlen in ihrer sexuellen Identität.
So ist auch schon der Palmsonntag auch für uns hier eine Ermutigung, in allen Katastrophen den Zweig der Hoffnung nicht aus dem Auge zu verlieren.
Reinhard Bürger