Das ist schon fast dreist! Da kommt ein junger Mann nach langer Abwesenheit wieder einmal in die Synagoge seines Heimatortes – und offensichtlich freut man sich und ist auch ein wenig stolz auf ihn. Der Junge von nebenan, von dem sie jetzt alle reden, weil er so beeindruckend predigt. Deswegen bittet man ihn, Lektor im Gottesdienst zu sein. Nicht irgendeinen Text liest er, sondern ein Kernstück, die Messiasverheißung des Gottesknechtsliedes: „Der Geist des Herrn ruht auf mir … er hat mich gesalbt … gesandt, den Armen die frohe Botschaft zu bringen“. Und was macht Jesus? Nachdem er vorgelesen hat, setzt er sich seelenruhig hin und sagt: Ach übrigens: Der erwartete Messias – ich bin‘s! „Heute hat sich das Schriftwort erfüllt“. Ich karikiere natürlich, aber man kann sich vorstellen, wie die Menschen reagiert haben: Sie waren vor den Kopf gestoßen.
Ein Modewort, das in diesen Wochen und Monaten in aller Munde ist, ist DISRUPTION. Genau das will Lukas am Anfang seines Evangeliums erreichen: Jesus „mischt auf“, und es beginnt etwas völlig Neues in der Geschichte zwischen Gott und dem Menschen. Was für ein Anspruch! „Heute hat sich das Heil erfüllt…“!
Ich muss zugeben: Ich liebe das Lukasevangelium. Es ist ungemein anschaulich und farbig (der „Maler“) geschrieben. Viele der schönsten bibl. Geschichten finden sich nur bei ihm: Die Geschichte vom Kind in der Krippe und den Hirten auf dem Feld, die vom Barmherzigen Vater, vom Barmherzigen Samariter, vom Zöllner Zachäus, die Emmausgeschichte. Und alle haben – nicht zufällig – ein Thema: Gott wird klein: Er nimmt sich der Bedrängten an, der Menschen, die wir nicht mit spitzen Fingern anfassen; er zieht keine Grenzen zwischen Menschen erster und zweiter Klasse. Das eigentlich Spezielle bei Lukas dabei ist (im Unterschied zu anderen Evgl., z.B. Matthäus): Das radikal Neue, das mit Jesus beginnt, ist ein Bruch mit dem Alten.
Neues, das mit Altem bricht – dazu haben wir ein ausgesprochen kompliziertes Verhältnis. In jungen Jahren ist es nicht selten, dass wir das regelrecht suchen: den Bruch mit Wertvorstellungen unserer Herkunft (dieses pubertäre Moment klingt ja auch in unserem Evangelium an), das Ausprobieren, auf unausgetretenen Pfaden zu gehen.
Je älter wir werden, je mehr wir uns aufgebaut haben, aber auch mit Grenzen konfrontiert wurden, umso mehr löst Neues, das mit Altem bricht, Verlustängste aus. Auf was kann ich noch setzen, wenn vergeht, was bisher getragen hat?
An den großen Bruchstellen des Lebens packt dies jeden: Der Verlust des Berufes, der Arbeit (Ruhestand); der Verlust der Familie, der Lebensgemeinschaften (der Partner, der stirbt, die Kinder, die wegziehen), auch Verlust von Heimat gehört dazu; der Verlust der Kraft (wenn alt werden). Das lässt keinen kalt. Da geht es um unsere Existenz: um Identität und Sinn, um Beheimatung und Gemeinschaft. Und weil Brüche und Verluste so unendlich weh tun, deswegen sind wir an dieser Stelle auch so hochgradig ambivalent. Wir fordern, erwarten radikal Neues immer von anderen, am liebsten von den sog. höheren Ebenen, damit es bei uns bleiben kann, wie es ist.
Es kann aber auch sein, dass unsere Beharrungskräfte und Verlustängste so stark werden, dass sie irgendwann umkippen in Wut. Dann wird Disruption gefährlich aggressiv. Das ist das, was uns im öffentlichen (auch im kirchlichen) Miteinander in diesen Jahren so ungemein gefährdet: Es beginnt im Kleinen. An wie vielen Stellen erleben wir, das Menschen kompromissloser werden. Die Wortwahl wird härter, verletzender. Wenn nicht das passiert, was ich für richtig halte, dann gehe ich. Im Zentrum steht das Ich! Letztlich ist es bei den Disruptionen, die uns im Großen drohen, nicht anders: Wenn wir den Egoismus zum Programm und zum handlungsleitenden Maßstab erheben, um die fraglos schwierigen Herausforderungen zu lösen, dann wird es für alle zerstörerisch und selbstzerstörerisch.
Oft frage ich mich zurzeit, wenn ich Nachrichten sehe: Wo stehen wir da – als Kirche? Wenn ich die Positionierung der Christengemeinschaften in Russland und z.T. auch in den USA sehe, die Kriegsverherrlichung, die Trump-Messianisierung, erschrecke ich. Das ist nicht mein Glaube!
Aber was ist denn mein Glaube? Wo ist mein Maßstab – als Christin, als Christ – in dieser sich polarisierenden Zeit? Lukas bietet uns im Evangelium heute einen an: einen Maßstab für das Koordinatenkreuz unseres Gewissens – und den kann man auf ein Wort bringen: HEUTE! Es ist für Lukas das Haupt- und Lieblingswort seines ganzen Evangeliums. Immer wieder HEUTE: * HEUTE ist euch der Heiland geboren; * HEUTE hat sich das Schriftwort erfüllt; * HEUTE ist diesem Haus Heil geschenkt worden; * HEUTE noch wirst du mit mir im Paradiese sein. Bei Gott gibt es nur eine Zeit: GEGENWART! Deswegen ist jeder Tag, jeder Moment, jede Begegnung, wo wir ganz gegenwärtig sind, auch ein Moment, wo uns Gott begegnet, ein Moment der Ewigkeit Gottes.
Vielleicht ist dieser Therapieweg des Lukas der Einzige, der uns aus der Falle befreien kann, in der wir so oft festhängen und die uns handlungs- und reformunfähig macht: „Was ich will, das hab’ ich nicht und was ich hab, das will ich nicht. Wo ich bin, dort will ich nicht sein und wohin ich will, dorthin kann ich nicht kommen. Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“. Das einzige Mittel dagegen ist: „Im Heute Gottes leben“ (so ein Buchtitel von Frère Roger).
Diese Haltung zu leben, löst kein Flüchtlingsproblem und schafft keinen Friedensvertrag für Gaza oder Kiew – nicht sofort … Aber: Zum einen kann es mir Klarheit geben für mein Handeln – morgen – in der nächsten Begegnung, beim nächsten Problem. Es kann uns als Ortskirche Klarheit geben, uns nicht zurückzuziehen auf unser gemeindeinternes Kleinklein. Christinnen und Christen gehören in die Gesellschaft, in die Parteien und Verbände. Und es kann der Kirche insgesamt Klarheit geben, dass nach außen, in der Gesellschaft eindeutig ist, wo wir stehen. Das hat schon Wirkung. Unterschätzen wir es nicht!
HEUTE geschieht Heil, wie in der Synagoge von Nazareth, wo Bedrängten beigestanden wird; HEUTE ist Gottes Heil gegenwärtig, wie bei Zachäus, da wo Christen Vergebung leben; HEUTE wirst du im Paradies sein… nicht nur der Schächer am Kreuz, sondern alle Sterbenden, für die wir glauben und hoffen! HEUTE ist Gott mit mir und mit uns. Amen.