Predigt 30. Sonntag im Jahreskreis A – Matthäus 22,34-40

„Wer Visionen hat sollte zum Arzt gehen.” Dieses Bonmot unseres Altbundeskanzlers Helmut Schmidt kommt mir immer wieder in den Sinn. Es ist ein sehr deutsches Wort. Wir Deutschen bemessen die Wirklichkeit gerne an dem, was bildlich gesprochen für uns „hinten rauskommt.“ Visionen haben danach in der Politik nicht viel verloren. Visionen sind uns verdächtig. Wir halten uns lieber an die Realitäten, sowohl in der Politik als auch in der Kirche. Das ist nicht verwerflich, in mancher Hinsicht sogar wünschenswert, wenn da nicht ein gewichtiges Aber wäre. Mit dem, wie es ist, sind wir nicht zufrieden. Wir nörgeln gerne und viel. Auch in unseren Gemeinden wird genörgelt und geklagt. Viele Klagen, die ich höre, sind durchaus berechtigt, manches wäre sicher auch veränderbar, aber nicht durch mich. Also bleibt bei mir ein trauriges Gefühl, das Menschen unzufrieden sind. Soll ich einstimmen? Meine Klage über das viele Klagen hin-zufügen? Ich bin versucht einzustimmen und weiß gleichzeitig, dass es falsch ist.

Ich will auf Jesus schauen und mir seine Worte aus dem Evangelium in Erinnerung rufen. Was ist das wichtigste Gebot, wird Jesus gefragt. Der, der so fragt, der Pharisäer, hat nicht ganz lautere Absichten Er will Jesus auf die Probe stellen. Wir heute dürfen Jesus diese Frage ohne Hintergedanken stellen, aus Interesse. Und ich formuliere sie ein wenig um, damit sie nicht gar so moralisch klingt. Was ist die wichtigste Regel, um ein erfülltes, und damit auch gottverbundenes Leben zu führen? Die Antwort, die Jesus gibt hat er sich nicht ausgedacht. Es ist ein Zitat aus dem Alten Testament. Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten, wie dich selbst. Was heißt das? Zunächst einmal besagt diese Regel: Das, was da gefordert wird, ist noch nicht Wirklichkeit. Und das, obwohl dieses Gebot, die Regel schon uralt ist. Vor Jesus haben die Menschen nicht nach dieser Regel gelebt, sie tun es zur Zeit Jesu nicht, obwohl er vorgemacht hat, wie es geht. Und auch heute sind wir der Erfüllung dieses Gebotes aufs Ganze gesehen nicht wirklich näher gekommen. Das Gebot der Gottes und Nächstenliebe ist also eine Vision. Manchmal höre ich den Satz: Ja, wenn sich doch die Menschen lieben würden, dann wäre vieles einfacher. Da scheint sie dunkel auf, die Vision, die uns schon zu Herzen geht. Aber sie ist vermischt mit dem Bekenntnis zu einer Wirklichkeit, die leider – da haben wir wieder die Klage – so anders ist. Was damit tun? Zum Arzt gehen? Oder damit anfangen: Gott und den Nächsten lieben zu lernen. Diese Regel ruft nach Veränderung! Denn das ist ein sinnvoller Weg, um das Nörgeln zu überwinden, ja es loszuwerden. Es wäre nicht einfacher, es wird einfacher im Miteinander, wenn wir anfangen einander anzunehmen!

Worum geht es bei der Nächsten- und Gottesliebe? Sicher nicht darum, jeder und jedem gleich nach der Messe um den Hals zu fallen, oder einfach nur immer nett zu sein. Liebe fängt mit etwas an, dass uns nur in den allerseltensten Fällen einfach von der Hand geht: Wir müssen von uns selbst absehen und versuchen beim anderen zu sein. Nur wenn wir uns verlieben, geht das von alleine. Da bin ich ganz hin und weg, von mir selbst. Außerhalb dieses besonderen Phänomens müssen wir das wollen: Beim anderen sein. Die sich verändernde Kirchenlandschaft ist da ein gutes Übungsfeld. Das verbreitete Kirchturmdenken, meine Kirche, mein Pastor, meine Sonntagsmesse sind Ausdruck dafür, dass wir noch zuviel bei uns selbst stehen bleiben und zuwenig das Größere, die Zukunft sehen. Ich bin überzeugt, dass das die Spur ist, auf die uns Jesus bringen will.

Wer Visionen hat, muss nicht zum Arzt gehen. Wer Visionen hat, das heißt, wer an Gott glaubt, der sieht in der Wirklichkeit nicht nur das Beklagenswerte, sondern noch mindestens noch zwei andere Dinge: Gott ist mit uns! An ihn können wir uns halten und von ihm sind wir gehalten egal, was die Zukunft bringt. Das ist das erste und hat mit der Gottesliebe zu tun. Und das zweite: Es liegt mit an dir, wie die Wirklichkeit ist. Wir haben die Wahl: Nur klagen und nörgeln oder beseelt von der Vision, dass Gott mit uns ist, im Kleinen anfangen etwas zum Besseren hin verändern. Dazu gehört auch die Nächstenliebe. Visionen sind nur sinnvoll, und da hat der Realpolitiker Helmut Schmidt ein wenig Recht, wenn sie mit der Wirklichkeit zu tun haben. Ein Mann des letzten Jahrhunderts hatte genau so eine Vision. Sein Traum von der Zukunft, wie er seine Vision nannte, nahm die unguten Zustände, die Wirklichkeit, auf und sagte seinen Zuhören gleichzeitig: Ihr könnt es verändern. Ihr habt das Zeug dazu. Seine Vision hat die Wirklichkeit verändert. Dieser Mann Martin Luther King war ein überzeugter Christ. In der letzten Woche wurde in Washington ein Denkmal eingeweiht, das an ihn und seine Vision erinnert. Mit Worten aus seiner berühmten Rede „I have a dream“ möchte ich schließen.

„Ich habe einen Traum, dass sich eines Tages diese Nation erheben wird und die wahre Bedeutung ihres Glaubensbekenntnisses ausleben wird: … Alle Menschen sind als gleich erschaffen. Ich habe einen Traum, dass eines Tages selbst der Staat Mississippi, ein Staat, der in der Hitze der Ungerechtigkeit und in der Hitze der Unterdrückung verschmachtet, in eine Oase der Freiheit und Gerechtigkeit verwandelt wird. Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt. Ich habe einen Traum, heute!“