Predigt 2. Sonntag der Osterzeit B 2021

Schwestern und Brüder,

unsere Evangelien sind keine historischen Dokumentationen, so wie wir die Biographie einer berühmten Persönlichkeit lesen. Unsere Evangelien sind theologische Rede und Deutungen  eines Menschen über einen Menschen. Und sie sind alle ganz genau komponierte literarische Texte, die eine ganz bestimmte Aussageabsicht verfolgen. Und doch sind sie Wort Gottes – Gotteswort im Menschenwort!

Das am meisten durchkomponierte Evangelium ist sicherlich das des Evangelisten Johannes, aus dem wir gerade unser Sonntagsevangelium gehört haben: die Erzählung von der Erscheinung des Auferstandenen und die Begegnung mit dem ungläubigen Thomas. Johannes hat diese Erzählung ganz an das Ende seines Evangeliums gesetzt. Und ein, zwei Jahrhunderte später haben dann irgendwelche Oberfrommen es nicht mehr ertragen, dass das Ende eines Evangeliums von einem Zweifler erzählt und haben dem Johannes-Evangelium  ein zweites, triumphalistisches Evangelien-Ende angefügt: der Auferstandene beim großen Fischzug, bei dem die Christengemeinden so viel Gläubige fangen, dass die Netze sie fast nicht fassen können.

Ursprünglich schloss das Johannes-Evangelium also mit einem „offenen Ende“, mit einem unklaren Ausblick in die christliche Zukunft, mit dem Satz an den zweifelnden Thomas: „Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“

1968 schreibt der Theologieprofessor Josef Ratzinger ein heute noch lesenswertes Buch: „Einführung in das Christentum.“ Da heißt es: „Glaube ist gerade…von seinem Ursprung her, nicht eine Rezitation von Lehren, nicht ein Annehmen von Theorien und Dingen, über die man nichts weiß und dafür umso lauter behauptet. Glaube bedeutet eine Bewegung der ganzen menschlichen Existenz.“

Christentum ist also kein System von Erkenntnissen, sondern eine Religion des biographischen Vollzugs, nicht lehre, sondern Leben. Es muss also nicht heißen „Ich glaube etwas.“, schreibt Ratzinger, sondern „Ich glaube an dich.“

Und wenn das so ist, dann kann und muss Zweifel in unserem Glauben Platz haben, weil wir allemal Menschen sind. Das hat schon der Evangelist Johannes erkannt, der sein Evangelium mit einer Zweifler-Geschichte enden lassen wollte und mit diesem herausfordernden Satz: „Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig, die nicht sehen und doch glauben.“

Warum wohl wollte Johannes so schließen?

Johannes war klar, dass es Menschen, die Jesus nicht mehr persönlich sehen können, schwer fallen wird, zu glauben. Ich kenne viele Menschen, die das auch zugeben, gerade in Bezug auf das Ostergeheimnis. Für diese Menschen aller Zeiten soll und kann Thomas eine Glaubenshilfe sein. Viele würden einiges dafür geben, die Chance zu bekommen, die Hand nach Jesu Wunden auszustrecken. Diesen Menschen sagt Johannes: Ihr könnt es, indem ihr auf Thomas schaut, der vom Zweifel zum Glauben gefunden hat, als er Jesu Wunden sah. Er ist euer „verlängerter Arm“, er leiht euch seine Augen durch die Jahrhunderte.

Thomas musste gar nicht mehr berühren. Er sieht die Wunden und gibt das stärkste Glaubensbekenntnis des Neuen Testaments: „Mein Herr und mein Gott.“

 Thomas hat die Wunden Jesu gesehen und glaubt. Und weil er sie gesehen hat, sollen und können auch wir glauben. Unser Glaube soll und kann aufbauen auf dem Glaubenszeugnis dessen, der die Wunden des Herrn gesehen hat.

Wenn wir die Osterkerze am Feuer der Osternacht präparieren und die Wachsnägel in die Kerze drücken, dann beten wir: „Durch deine heiligen Wunden, die leuchten in Herrlichkeit, behüte uns und bewahre uns Christus, der Herr.“

Die Wunden Jesu – sie sind ganz wichtig für uns! Wichtig nicht als Objekte einer vergangenen, uns fremd gewordenen, all zu blutigen Anbetungsfrömmigkeit, sondern wichtig als Stütze und Halt für unseren Glauben.

Wären die Wunden Christi nicht wichtig für unseren Glauben, dann trüge der Auferstandene sie nicht verklärt noch an sich. Wären sie nicht wichtig für uns, dann würde sie der Herr uns nicht zeigen.

Die Wundmale Jesu sind so wichtiges Zeichen, dass wir ihnen, wenn man es liturgisch ganz korrekt machen will, in der Osterkerze ein Weihrauchkörnchen beigeben…weil sie „leuchten in Herrlichkeit“, weil sie den Glauben des Thomas er-leuchtet haben und auch unseren eigenen Glauben er-leuchten wollen.

Schwestern und Brüder,

unser Glaube ist ein persönlicher Glaube, der auf einer persönlichen Beziehung zu Gott aufbaut. „Ich glaube nicht etwas.“ sondern „Ich glaube an dich.“, hat Ratzinger geschrieben. Und deswegen gibt es immer auch Zweifel. Unser Glaube trägt Wunden, wie unser Gott Wunden trägt.

Wenden wir uns immer wieder dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn zu und sagen ihm: „Mein Herr und mein Gott, ich glaube, hilf meinem Unglauben.“

Amen.