Predigt am Karfreitag 2024

1. Am Karfreitag predige ich eher ungern. Es fühlt sich für mich unpassend an – so unmittelbar nach der Passion. Lieber möchte ich schweigen und innehalten. Zu groß ist die Gefahr, entweder den Mund zu voll zu nehmen, wortreich nichts zu sagen zu haben, gerade heute unerträglich wäre… oder aber zu stottern, angesichts der ‚Wucht‘ der Worte und Bilder.

Vielleicht stottern wir aber auch, weil wir uns zunehmend schwertun, einen inneren Zugang zu den Deutungen des Kreuzestodes Jesu zu finden, wie sie uns in der Bibel und der Verkündigungstradition begegnen.

Nehmen wir dazu einmal ein Wort aus der Lesung heute (dem Gottesknechtslied des Jesaja). Es ist ein Schlüsselsatz, der den ‚Glutkern‘ des Christlichen auf den Punkt bringt: „Durch seine Wunden sind wir geheilt“! Ist ein solcher Gedanke auch für uns noch Mitte unseres Glaubens, Lebenshilfe? Oder ist die Glut kalt geworden, und wir begreifen nicht mehr von innen heraus, was da gemeint ist? Verbinden wir das noch mit dem Kreuz, das vielleicht zu Hause hängt. Oder ist das Kreuz schon abgenommen?

„Durch seine Wunden sind wir geheilt“, wie soll man das aber auch als aufgeklärter Mensch des 21. Jahrhunderts verstehen? Wie sollen Leid und Kreuz aller Menschen aller Zeiten erlöst sein durch Christi Kreuz? Wie darüber reden, ohne zu stottern?

2. Stottern wir also! Doch wenn das besser sein soll als Schweigen, dann bitte richtig! Nähern wir uns dem, was das Kreuz Christi bedeuten kann, also aus der Perspektive der Opfer von Kreuz und Leid heute, der Opfer von menschlicher Gewalt und Hass. Können Wunden, die im Leben geschlagen wurden, vor allem Wunden der Seele, geheilt werden??

Können wir uns überhaupt, wenn wir es selbst nicht erfahren mussten, vorstellen, was es bedeutet, Gewalt an Leib und Seele zu erfahren, gedemütigt und misshandelt zu werden? Butscha, Mossul, Srebrenica, Babyn Jar… wie viele Ortsnamen stehen für Kriegsmassaker grausamster Art. Die es erleiden mussten, tragen Traumata durch ihr ganzes Leben, Traumata, die oft noch über Generation nachwirken. Können wir uns auch nur ansatzweise vorstellen, was es bedeuten mag, als Kind oder Jugendlicher von Vertrauenspersonen missbraucht zu werden, was durch diesen Seelenmord zerstört wird an Vertrauen in die Welt, in Menschen, am meisten vielleicht zu sich selbst? Ich beschränke mich auf diese beiden oft genannten Beispiele, wohl wissend, wie viel an ungeheuerlicher Gewalt tagtäglich auch im Kleinen geschieht, manchmal stumme Gewalt, die nie nach draußen dringt.

Wie sollen solche Wunden geheilt werden? Kann man das jemals versöhnen? Ich vermute, wir sind uns einig, dass, wenn wir hier von Versöhnung reden, wir erst mal von einer Versöhnung mit uns selbst sprechen – und die ist dramatisch schwer genug. Was für ein langer Weg ist notwendig, dass durch eine behutsame und liebevolle Begleitung wieder Vertrauen des Gepeinigten zu sich selbst wächst, ein versöhntes Verhältnis zum eigenen Leben. Jeder, der einmal traumatisierte Menschen begleitet hat weiß, wie viel Kraft ein solcher Prozess erfordert – und alle Beteiligten nicht selten überfordert.

Der Begleitende gerät, ob er will oder nicht, in die Geschichte mit hinein, wird selbst verletzt, muss den anderen wortwörtlich ‚er-tragen‘, damit dieser sich wieder selbst ‚er-träglich‘ finden, sein Leben selbstständig tragen kann. Auch wer schuldig-Gewordene begleitet, steht vor einer schier übermenschlichen Herausforderung: Den anderen, vielleicht auch in seiner Unerträglichkeit, auszuhalten, damit der anerkennen kann, was er angerichtet hat – und vielleicht einmal ausbrechen kann aus dem Kreislauf von Verleugnung, Selbstrechtfertigung und Selbstverdammung… Was für eine Reife wird da verlangt, wie viel reflektierte Selbstvergessenheit?! Seel-sorge ist das im tiefsten Sinn des Wortes.

3. Doch damit erreichen wir unversehens einen Punkt, wo sich die therapeutische und die spirituelle Ebene berühren. Es wird erahnbar, dass das, was wir am Karfreitag als Geheimnis Christi feiern, sich sehr konkret in unserem Leben ereignen kann: „Er hat unsere Sünden getragen“; „Er hat für uns genug getan!“… Vielleicht sind diese Gedanken ja gar nicht so abgehoben und unverständlich!

Einen kleinen Ausflug dazu in die Geschichte der Psychoanalyse. Zwischen Sigmund Freud, dem Vater der Psychoanalyse, und Oskar Pfister, reformierter Pfarrer und ebenfalls Psychoanalytiker, bestand eine lange Freundschaft. In einem erstaunlichen Briefwechsel ging es genau um diese, uns bewegende Frage. Freud spricht gegenüber Pfister von einer „schrankenlosen Übertragung“, die nötig sei, damit es für einen seelisch Leidenden Versöhnung gebe. Und fragt dann: „Kann ein Therapeut, wirklich das Leid, die Not, die Schuld seines Klienten auf sich nehmen? Wie soll ich, Siegmund Freud, zu einem Kranken sagen: ‚Ich vergebe Ihnen ihre Schuld!‘ Welche Blamage in meinem Fall“. Für Freud, den Atheisten, ist klar: Vergebung gibt es nicht. Mit seiner Schuld bleibt jeder allein. Bestenfalls von Schuldgefühlen kann ein Therapeut befreien!

Nicht weniger erstaunlich ist Pfisters Antwort: Was jeden Menschen radikal überfordere, sei aber dem möglich, der vollständig aus Gott lebt. Nur der kann so selbstvergessen sein, wie es nötig ist, um andere zu heilen. Und wenn der dann noch Versuchung und Leid selbst kennt, dann könne er im echten Sinn vergeben und heilen. Er kennt das Leid von innen, ist aber gleichzeitig stark genug, sich nicht von ihm erschlagen zu lassen. Das, so Pfister, kann kein Mensch. Nur ein göttlicher Arzt könne sich das zerstörte Leben eines anderen ganz zu eigen machen. Nur er könne sagen: ‚Deine Sünden sind dir vergeben‘!

4. Das nennen wir „Erlösung“! Oder soll ich besser sagen: Das nannten wir Erlösung? Ich komme zu meiner Anfangsfrage zurück: Ich frage Sie und mich das ohne moralisierenden Unterton, in aller Ernsthaftigkeit. Können Sie, mit Ergriffenheit des Herzens, beten: „Gekreuzigter, ich überlasse mich dir ganz! Du bist Arzt, der Hilfe schafft, heile meine Wunden. Gib mir neue Lebenskraft, lass mich recht gesunden“?.

Nicht selten werde ich angefragt: ‚Wie kannst du angesichts des Unheils in der Welt noch an einen gütigen Gott glauben?‘ Eine prompte Antwort darauf habe ich nicht. Manchmal, wenn es die Gesprächsatmosphäre ergibt, habe ich aber eine Gegenfrage: ‚Wie kannst du, bei einer Vorstellung, dass es für all die Opfer von Natur und Geschichte keine Hoffnung gibt, dich eigentlich noch des Lebens freuen?‘

Gleich ist Kreuzverehrung. Heute möchte ich Sie vorher, gleich nach den ‚Großen Fürbitten‘ einladen, in einem Moment der Stille Ihre Bitte, Ihre Klage oder Not aufzuschreiben, um sie dann am Kreuz abzulegen. Lassen Sie Ihr Herz sprechen. Es ist nicht schlimm, wenn wir stottern, wenn wir verstummen oder weinen. Am Kreuz hat all das seinen Platz. Es mag uns wenig vorkommen, wenn wir beten: ‚Ich möchte glauben, hilf meinem Unglauben, komm mir doch entgegen‘. Aber es ist genug, ganz gewiss. Amen.

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