Predigt am 9. Sonntag im Jahreskreis/B, 2. Juni 2024
1. Beide Schriftworte heute versetzen uns ganz die religiöse Welt des Judentums: die Lesung mit dem Sabbatgebot; aber auch der Streit Jesu um das richtige Verständnis des Sabbatgebotes.
Christen und Juden – eine ganz nahe, aber immer auch schwierige Beziehung. Unsere nächsten Geschwister im Glauben sind sie. Jesus selbst war Jude, unsere Anfänge sind die einer jüdischen Konfession. Die Geschichte Israels, von Abraham über Mose bis zu den Propheten, ist auch unsere Geschichte. Die Psalmen sind jüdisches und christliches Gebet. Aber es ist auch eine unheilvolle Geschichte. Judenfeindschaft ging über Jahrhunderte wesentlich von Christen aus. Gerade angesichts immer wieder aufkommender Wellen des Antisemitismus scheint es mir dringend notwendig, das zu erinnern – vor allem aber auch: Nie zu vergessen, wie nah sich Juden und Christen sind. Greifen wir die Gelegenheit der heutigen Schriftworte beim Schopf. Gehen wir der Nähe und Verschiedenheit unserer Glaubenswege einmal nach.
Zwei persönliche Erlebnisse dazu:
- Vor einigen Jahren der Moment, als in der neu eingeweihten Synagoge in Unna-Massen feierlich die Thorarolle hereingetragen wurde… und ich empfand die große Nähe, fast Zugehörigkeit, dass es auch unsere Heilige Schrift ist, die da getragen wird.
- Daneben eine irritierende Erfahrung in Mea Shearim, einem orthodoxen Stadtviertel Jerusalems am Schabbat; ein Quartier, in dem das komplette Leben stillstand – und wir aufpassen mussten, keinen Schaden zu nehmen, weil wir die Sabbatruhe störten.
2. In der Regel meinen wir, wir wüssten das ein oder andere über jüdische Religiosität, weil wir vielleicht einmal ein Pessachmahl gefeiert haben (was ich immer fragwürdig fand. Es kommt mir vor wie ein Nachspielen). Doch schnell kommen wir an Verständnisgrenzen, wenn uns z.B. das penible Einhalten bestimmter Gesetze befremdet, beim Sabbathgebot etwa das Verbot, Feuer zu machen, was im Zeitalter der Elektrizität (die mit Feuer gleichgesetzt wird) besonders kompliziert erscheint. So nah uns das Judentum einerseits ist, unterscheidet sich das Verständnis, was Religiosität ist, sehr grundlegend vom christlichen Weg, was (hin und her) schnell zu manchen Missverständnissen führt.
Ein Beispiel: Wie klingt für Sie das Wort „Gesetzesfrömmigkeit“? Vermutlich eher negativ. Für bewusste Christen fängt Glauben eigentlich erst an, wenn wir darüber hinweggekommen sind. „Gesetz“, das klingt einengend, juridisch, etwas zwanghaft. Für eine religiös lebende Jüdin, einen religiös lebenden Juden ist es exakt umgekehrt: Das Gesetz!! – das ist da Höchste! Lesen Sie mal den Psalm 119, den längsten in der Bibel, dann kann man eine Ahnung, einen Geschmack davon bekommen. Über viele Seiten erstreckt sich ein einziger Jubel über die Schönheit des Gesetzes: „Ich ergötze mich an deinem Gebot …Wäre nicht dein Gesetz meine Freude, ich wäre zugrunde gegangen … Führe mich auf dem Pfad deiner Gebote … deine Weisung liebe ich … deine Zeugnisse sind das Entzücken meines Herzens“.
Was ist da anders? Und warum ist es unterschiedlich? Vielleicht kann man es so sagen: Für das Judentum ist der Gedanke, dass Gott unerkennbar ist, dass Gottes Name unaussprechbar ist – kein Wort, kein Bild ihn fassen kann – viel zentraler als bei uns im Christentum. Deswegen kann ich als Jude sagen: Ich kann Gott nicht erkennen, kann nicht an ihn glauben; ich bin Agnostiker, gar Atheist. Trotzdem bin ich Jude/Jüdin, denn: Ich halte das Gesetz und die Gebote der Bibel, halte mich daran, Teil des Volkes zu sein – und damit kann mein Leben nicht fehlgehen.
Undenkbar im Christentum. Bei uns ist die zentrale Frage: Glaubst Du? Alles Weitere ergibt sich dann. Im Judentum ist die Frage, ob ich glaube, nicht erstrangig, sondern: Lebst du die Gebote, das Gesetz? Alles Weitere ergibt sich dann…
3. Machen wir Gemeinsames und Unterschiede konkret am Sabbatgebot. Juden und Christen teilen es. In der Schöpfungsgeschichte heißt es: „Am siebten Tag vollendete Gott das Werk, das er geschaffen. Und Gott segnete den siebten Tag und erklärte ihn für heilig; denn an ihm ruhte Gott…
Manchmal sagen wir ja (und berufen uns dabei ausgerechnet auf die Schöpfungsgeschichte) der Mensch sei die ‚Krone der Schöpfung‘. Doch: ‚Krone der Schöpfung‘, ist in der Bibel der Sabbat. Nicht der Mensch ist Zielpunkt, auf den alles zuläuft, sondern die Ruhe der Schöpfung in Gott. Beim Sabbathgebot geht es um die Frage: Was macht den Menschen zum Menschen? Wohl nicht, dass er die Welt nach seinem ‚Gusto‘ gestalten kann! Ist es nicht – gerade umgekehrt – die (mögliche!) Freiheit vom unerbittlichen Überlebenskampf?
Doch wie inszeniert man einen solchen Tag der Freiheit? Die Idee des jüdischen Sabbatgebotes ist: Ein Tag in der Woche ist Generalstreik – und wir steigen aus aus der Mühle des Handelns und Gestaltens (auch der kreativen Freizeitgestaltung) und gehen ganz IN DIE WAHRNEHMUNG! So weit, so verständlich! Uns befremdlich sind die „Ausführungsbestimmungen“ (mal so nennen), wenn satte 39 Tätigkeiten (die 39 Melachot) verboten sind: Schreiben, transportieren, alle landwirtschaftlichen und handwerklichen Tätigkeiten, lange Wege gehen.
Warum – so im Detail konkret? Hat das Sinn? Vielleicht so: „Ruhe“ das klingt so einfach – ist es aber gar nicht. Er ist wahrscheinlich der unnatürlichste Zustand im ganzen Universum. Die Existenz allen Lebens selbst ist eine immerwährend sich bewegende Maschine, ein konstanter Zustand von Bewegung. Es teilt sich und vermehrt sich, zersetzt sich und baut sich wieder auf. Es bewegt sich und strebt. Es gibt nicht den kleinsten Moment, in dem unser Herz nicht pumpt, unser Gehirn keine Signale sendet oder unsere Seele nach Höherem strebt. Sich sein Gehalt zu verdienen ist Arbeit, einen Haushalt zu führen ist Arbeit, Urlaub ist Arbeit. Ruhe? Die Tatsache, dass wir es wagen, den Begriff Ruhe auf uns beziehen können, hat fast etwas Kurioses
„Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Gott“, sagt Augustinus. Der Sabbat, die Ruhe in Gott, ist das Schöpfungswerk, das einen Vorgeschmack auf die vollendete Schöpfung geben will. Sabbat, das ist mehr als eine Pause wöchentlichen Lebenskampf. Gefeiert wird der Traum von der vollkommenen Welt. Im Grundlegenden unterscheiden sich Christen und Juden da nicht. Das alles hat Jesus genauso gesehen. Und sein Wort: „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat“ steht dazu nicht im Widerspruch. Es entspricht exakt einem rabbinischen Wort: „Gott hat den Sabbat für euch geschaffen, nicht euch für den Sabbat“.
Die uns irritierende Konkretheit der Sabbatgebote will irritieren – aus dem Gedanken heraus, dass reine Wahrnehmung, „Stille in Gott“ ein für den Menschen so ungewohnter Zustand ist, dass ich, um auch nur einen Hauch von ihr zu erhaschen, wirklich jede Tätigkeit, auch jede kreative Aktivität einstellen muss. Das ist ohne Frage anstößig, doch vielleicht kann es auch an-stoßen, die selbstkritische Frage, wie viel Raum für Wahrnehmung, Stille in meinem Leben eigentlich ist – und „was das so mit mir macht“, wenn sie völlig fehlt. Fremd ist dies auch dem christlichen Sonntag nicht.
Neu ist einzig der Satz: „Der Menschensohn ist Herr auch über den Sabbat“. Neu ist, dass der Traum von der vollendeten Welt für uns ein Gesicht hat, das österliche Gesicht Jesu. Neu ist, dass deshalb der Weg der Christen weniger in der Befolgung der Gebote liegt als darin, Jesu Weg zu gehen, nachzufolgen. Wie Juden feiern wir den Sonntag als eine ‚Insel in der Zeit‘. Aber nicht allein im Weglassen der Arbeit, sondern in der Freude über die Neuschöpfung des Lebens an Ostern.
Ein jüdischer Schriftsteller hat gesagt: „Mehr als die Juden den Sabbat gehalten haben, hat der Sabbat die Juden erhalten“. Ohne Sabbat/Sonntag können wir nicht leben. Wir werden ihn nicht immer halten. Aber er wird uns erhalten.