23. Sonntag im Jahreskreis B, 4./.5. September 2021
Vor sechs Jahren standen – bedingt durch den Konflikt in Syrien – Tausende Menschen vor den Grenzen Europas. Wir erinnern uns gut an die Bilder von den Menschenschlangen, die zu Fuß oder in unsicheren Booten europäischen Boden erreichen wollten. Für die betroffenen Staaten war das keine einfache Situation: sollen wir sie reinlassen oder sollen wir uns dagegen sperren? Jetzt in diesen Wochen, wo das Ende der Ära Merkel bevorsteht und ihre Zeit als Regierungschefin reflektiert wird, kommt natürlich auch ihr berühmter Satz wieder in die Öffentlichkeit: „Wir schaffen das!“ Dieser Satz prägt ihre ganze Regierungszeit. Sie hat sich entschieden, unser Land für Flüchtlinge zu öffnen und unglaublich viele andere Menschen haben sich eingebracht, um kurzfristig und auch langfristig ihre Hilfe anzubieten. Andere Länder haben ihre Grenzen nicht geöffnet und haben extra noch neue Zäune gebaut: sich öffnen oder sich verschließen – vor dieser Alternative stehen wir oft im Leben.
Oder ich denke an unsere persönlichen Beziehungen und sehe auch in meiner eigenen Familie Menschen, die sich den anderen verschließen. Man kommt nicht an sie ran:
- ‚mit dem kann ich nicht mehr reden‘,
- ‚ich brauch doch keine Beratung‘,
- ‚du kannst das gar nicht beurteilen, du bist ja weit weg‘,
- ‚ich habe es ja nur gut gemeint‘.
So oder ähnlich lauten die Antworten, wenn wir merken, dass das Gegenüber sich verschließt.
Genau diese Situation spricht das Evangelium an, wenn es die Geschichte von dem taubstummen Menschen erzählt. Von einem Menschen, der nicht hören kann und deshalb auch stumm bleibt. Es ist zu vermuten, dass er von Geburt an taub ist und deshalb auch nie hat sprechen können. Er hat sich nie richtig entfalten können. Damit ist er weitgehend ausgeschlossen von menschlicher Kommunikation. Wie ein Gefangener. Der Evangelist benutzt deshalb auch ein Wort aus der Kriminalsprache: ‚Fessel‘ – die Zunge wird von ihrer Fessel befreit. Wie ein Inhaftierter ist er aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Dabei benutzt Jesus nicht einfach einen Zauberspruch und macht Hokuspokus. Er baut eine sehr intensive Beziehung auf und kommt diesem Menschen sehr nah. Für uns wirkt das heute fast eklig und in Corona-Zeiten müssen wir sagen: geht gar nicht. Einen solch intensiven Zungenkuss gibt es unter Liebenden, aber nicht unter wildfremden. Aber Jesus kommt diesem Menschen nah mit seinem Speichel, dem Organ des eigenen Sprachvermögens (Drewermann). Und dazu zwei kleine Beobachtungen – wie Nebensächlichkeiten:
- Jesus nimmt den Menschen beiseite, von der Menge weg. Ist es der Druck der anderen, die diesen Menschen hindern, richtig zu reden? Eingeengt von Verboten, von Erwartungen, von Vorurteilen tut es ihm gut, auf Distanz zu gehen, damit Heilung passieren kann und er richtig, ehrlich, klar und entschieden reden kann. Er muss sich nicht mehr bedroht fühlen.
- Und Jesus blickt zum Himmel auf und seufzt. Hier zeigt sich sein Vertrauen und er weiß, dass es nicht nur die medizinische Geschicklichkeit ist, sondern das Vertrauen auf Gott, das letztlich diese Heilung ermöglicht. Das was hier als kurze Momentaufnahme erzählt wird, ist vielleicht ein langer Prozess gewesen. Wahrscheinlich hat es viele mühsame Schritte für diesen Menschen gebraucht, wieder auf andere hören zu können und mit ihnen richtig zu reden: die Wahrheit zu sagen über sich selbst und zu sich selbst zu stehen.
Das was einmal am Ufer des Sees von Galiläa gesprochen worden ist, soll sich jetzt fortsetzen in der Gemeinde derer, die an Jesus glauben. Wir selbst dürfen dieses Effata -Öffne dich – immer wieder sagen. Oder es uns auch selber sagen lassen.
Reinhard Bürger