Osternacht C, 16. April 2022

Wenn ich meine Brille absetze, kann ich nichts mehr lesen. Die Buchstaben verschwimmen zu einer undeutlichen Linie, ich kann Zahlen und Buchstaben nicht mehr unterscheiden und bin dadurch in meiner Beweglichkeit durchaus eingeschränkt. Ein Verlust der Brille etwa im Urlaub wäre schon eine mittlere Katastrophe. Vielen hier wird das ähnlich gehen. Die meisten Menschen brauchen irgendwann im Leben eine Brille oder Kontaktlinsen, damit sie klar sehen und Konturen und Umrisse scharf erkennen zu können und nicht ratlos in der Ecke stehen.

Als solche ratlosen Menschen wird die kleine Gruppe von Frauen beschrieben, die nach dem Tod ihres Meisters ihm den letzten Dienst erweisen und den Leichnam salben wollen. Sie sind völlig konsterniert von dem, was sie sehen – nämlich nichts. Der Leichnam ist weg. Ihnen verschlägt es die Sprache. Sie sind wie gelähmt und gucken voller Angst zu Boden. Es ist, als ob alles vor ihren Augen verschwimmt.

Da braucht es schon einen starken Impuls, um wieder ins Leben zurückzukommen. Er wird beschrieben in dem Erschienen von 2 Gestalten in leuchtenden Gewändern. Nicht in grauen Anzügen, die in ein Büro passen würden oder in die Geschichte von Momo, sondern auffallend, hell, strahlend, anrührend, himmlisch. Diese angstmachende Begegnung aber verändert sich im Laufe der Begegnung. Die beiden Gestalten öffnen ihnen die Augen für das, was passiert ist. Sie erinnern an Jesu Worte und dann fällt es den Frauen wie Schuppen von den Augen: Ja, so hat er selbst früher schon gesprochen. Und in diesem Moment beginnt bei ihnen der Prozess des Umdenkens. Es wird noch dauern, bis sie alles begreifen werden – aber sie sehen jetzt wieder klarer, als hätten sie eine neue Brille bekommen. Zuerst aber müssen sie das den Männern klarmachen – und stoßen natürlich auf heftigen Widerstand. Eine neue Sicht auf die Wirklichkeit braucht oft langen Atem, um andere Menschen zu überzeugen…

In einem solchen Prozess des Umdenkens sind wir seit einigen Jahren. Die Krise des Missbrauchs in Kirche und anderen gesellschaftlichen Einrichtungen hat zu einem enormen Vertrauensverlust geführt und die Glaubwürdigkeit so mancher Institution ist wie an einem Karfreitag gestorben. Die Pandemie hat uns an Grenzen geführt, die wir nicht für möglich gehalten haben: Quarantäne in Dachkammern, Verzicht auf gemeinschaftliche Veranstaltungen, ständige Testungen und Streit über Impfungen. Und politische Parteien, die jahrelang für Abrüstung standen, drängen jetzt zur militärischen Stärke. Ich habe den Eindruck, dass die Veränderungen, in denen wir stecken, mir eine neue Brille verpasst, damit ich die Wirklichkeit wieder klarer und schärfer sehe. Die Veränderungen, die wir erleben, gehen aber in alle Richtungen, mit einer positiven und mit einer negativen Färbung. Wer hätte gedacht, dass die Kirche sich einmal für Menschen als Mitarbeitende öffnen würde, die in ihrer sexuellen Identität so gar nicht dem überlieferten Bild entsprechen? Aber wer hätte auch gedacht, dass in Europa nach zwei Weltkriegen noch einmal Bomben fallen würden?

Die Erfahrung der Auferstehung verändert das Lebenskonzept der Jünger Jesu, es gibt ihnen eine neue Brille. Es ist eine Brille, die sie befähigt, das Leben klarer zu sehen, realistischer, nüchterner, vor allem aber hoffnungsvoller. Diese österliche Brille verdrängt den Grauschleier der Passivität, der Angst. Sie gibt klare Sicht auf das, was notwendig ist zu tun, sie gibt Durchblick auf das, was dem Leben dient. Sie hilft uns, die Stufen klarer zu sehen, die wir besteigen müssen, ohne ins Stolpern zu geraten.

Die Frauen am Grab und in ihrem Gefolge auch die Männer stehen vor der Herausforderung, ihr Leben neu zu deuten und neue Wege einzuschlagen. Sie hatten einen Leichnam konservieren wollen und werden nun selbst ins Leben gestoßen. Das ist Ostern – Halleluja!

Reinhard Bürger