19. Sonntag im Jahreskreis C, 6./7. August 2022

In unserem Staat hat die freie Presse seit Ende der Nazi-Diktatur und der Gründung der Bundesrepublik eine wichtige Aufgabe übernommen. Eine gute seriöse freie Presse arbeitet mit qualitativ gut ausgebildeten Frauen und Männern, die das Geschehen in der Welt beobachten, Hintergründe erforschen und es auch kommentieren. So mancher Skandal und mancher Missstand ist dadurch schon aufgedeckt worden. Ich denke an die Spiegel-Affäre zu Anfang der 60er Jahre. Mir fallen jetzt auch die ganzen Missbrauchsfälle in Gesellschaft und Kirche aus den letzten Jahren in, wo eine seriöse Presse stets ein wachsames Auge auf unsere Gesellschaft hatte.

Wir erfahren auch von den gleichgeschalteten Medien etwa in Russland, wo keine unabhängige Berichterstattung mehr möglich ist. Wie viele Journalisten etwa sind in den letzten Jahren in Russland oder auch in der Türkei und vielen anderen Ländern kaltgestellt worden.

Für das Funktionieren einer Gesellschaft ist ein solches Wächteramt dringend notwendig. Im Alten Testament werden die Propheten oft mit dieser Aufgabe betraut. Sie legen die Vergehen der Mächtigen offen und klagen sie an. Für das Funktionieren menschlicher Gemeinschaft ist es wichtig, dass diejenigen, die Macht und Verantwortung haben, auch kontrolliert werden. Sonst kann Macht auch schnell missbraucht werden. Das gilt aber nicht nur für Fachleute, Journalisten, Propheten, oder Aufsichtsräte, sondern ist eine Aufgabe eines jeden: ‚Lasst eure Lampen brennen und legt eure Gürtel nicht ab‘ – so lautet der Impuls aus dem heutigen Evangelium. Damit ist sicherlich nicht gemeint, dass wir uns immer die Nächte um die Ohren schlagen sollen. Es ist vielmehr ein Hinweis auf eine Grundhaltung. Neben den Profis, die das gesellschaftliche und auch kirchliche Leben beobachten und es bewerten und kommentieren, ist es eigentlich die Aufgabe eines jeden wachen Demokraten oder auch Getauften und Gefirmten, mit wachen Augen durch diese Welt zu gehen. Es kann nicht angehen, dass man von den Politikern sagt: ‚die werden das schon richtig machen‘ oder dass man in der Kirche nur darauf vertraut und sich sagt: ‚die haben studiert und werden es schon wissen…‘

Taufe und Firmung sind keine abgehobenen Riten oder nur schöne Familienfeiern, sondern befähigen zu einem wachen Auge und dazu, jederzeit die Lage der Welt zu beurteilen. Innerkirchlich sind es zur Zeit die synodalen Prozesse, die in manchen Ländern angestoßen sind und auch weltweit für die ganze Kirche begonnen haben. Es geht darum, mit wachem Auge die Lage in unseren Kirchen wahrzunehmen und darauf Wege für die Zukunft zu suchen.

Wachsam zu sein heißt: sich informieren, sich mit anderen austauschen, gegensätzliche Meinungen anzuhören, auch andere Meinungen stehenzulassen. Es heißt auch, die Stimme erheben, wo Dinge passieren, die der christlichen Botschaft entgegenstehen oder wo die menschliche Würde mit Füßen getreten wird. Immer wieder bewundere ich Frauen und Männer, die in Russland, in China oder in der Türkei und manchen arabischen Ländern ihre Stimme erheben und für Freiheit und Menschenrechte eintreten. Sie wissen, dass sie bedroht und verfolgt werden. Aber sie sind mutig.

Das gilt genauso für das Zusammenleben in unseren Kirchen. Je mehr sexueller Missbrauch und Machtmissbrauch aufgedeckt wird, um so mehr braucht es die Menschen, die im Bewusstsein ihrer Taufe und Firmung ihre Lampe brennen lassen und ihre Gürtel nicht ablegen, sondern wach und engagiert durch ihr Leben gehen. Gleichzeitig wird aber Geduld angemahnt. Das Evangelium spricht davon, dass der Herr auch erst in der zweiten oder dritten Nachtwache kommen kann. Wir können nicht damit rechnen, dass sich alle Probleme im Handumdrehen lösen lassen, sondern dass wir eine Menge Geduld brauchen… Und so eine Nacht kann lang werden.

Reinhard Bürger