Jedes Jahr im Advent werden wir dorthin geschickt, wohin wir womöglich zuallerletzt hinwollen: in die Wüste. Ein besonderer Erlebnisurlaub, eine spirituelle Abenteuerreise. Solche Crashkurse liegen nicht jedem. Warum werden wird wieder und wieder zurückgeworfen an diese Anfänge und versetzt in einen unmöglichen Biotop? Warum so ungemütlich? Kann ich nicht anderswo sanfte Begegnung mit Gott pflegen? Ich mag es lieber wohltemperierter, maßvoller, gemütlicher. Und zudem: Alle Jahre wieder sollen wir an diesem Unort der Wüste Bekanntschaft machen mit einem heuschreckenessenden, zornigen „Fremdkörper“ im Ziegenfell, der uns eine Standpauke hält und darum gar nicht so sympathisch ist. Warum muss mir dieser Johannes alle Jahre wieder auf die Nerven gehen und mir ein schlechtes Gewissen einreden? Die Liebe zu diesem Heiligen hält sich in Grenzen. Die Bekanntschaft mit ihm steht womöglich nicht auf meinem Wunschzettel. Anderen Propheten schenken wir eher das Ohr: Wetterpropheten in Zeichen der Wetterkapriolen, Wirtschaftsweisen, die uns die Zukunft des DAX prognostizieren, Astrologen und Futurologen, die uns in Sicherheit wiegen oder alte Gewissheiten bestätigen. Und dann kommt uns so ein „Wüsten-Schrat“, der Wunden aufreißt, wenig erbaulich neue, unbekannte Horizonte aufreißt, das Gericht und die Feuertaufe durch einen Kommenden ankündigt. Mit ihm kann ich wenig anfangen.

Ist dieser Vorläufer nicht durch Jesu Kommen ‚erledigt‘, durch die barmherzige gute Botschaft des Heilands widerlegt? Vielleicht ist das drohende Wort dieses Bußpredigers ja nur an die ‚anderen‘ gerichtet, die sich damals auf das spirituelle Abenteuer Wüste einließen? Das waren die späteren Gegner Jesu. Was geht’s aber mich an? Manche Bußpredigten verschleißen sich, irgendwann hört man nicht mehr genau hin, macht sich über solche Drohprediger lustig, sie langweilen. Propheten wie Johannes haben es schwer. Sie bringen keine leichte Kost und sind große Einzelne, wahre Künder einer „Zeitenwende“. Sie schüchtern ein, weil sie so dröhnend daherkommen und imposante, wilde Persönlichkeiten sind. Sie haben den Durchblick, können schärfer sehen, was Sache ist, und wagen es, das dringend Anstehende beim Namen zu nennen. Sie hören das Gras wachsen. Wie ein Seismograf spüren sie die Bewegung des auf uns zukommenden Gottes früher als wir Normalsterbliche. Johannes tritt mir mit einer dringenden Zeitansage in den Weg; er lädt mich nicht sanft ein, „mich ein Stück weit“ auf den Weg zu machen; er fordert zur Umkehr auf, zur Richtungsänderung. Und Umkehr kann manchmal auch Rückschau, Rückkehr sein, da wo ich in der biografischen Sackgasse stecke. Steht es mir da zu, Sie zu diesem anspruchsvollen Advent aufzufordern? Lieber möchte ich Ihnen etwas Besinnliches bieten und nicht die unpopuläre Botschaft eines spröden Mannes. Moralische Standpauken, Publikumsbeschimpfung liegen mir eigentlich nicht. Warum? Weil ich selber so hinter der Leidenschaft dieses Predigers zurückbleibe und weil meine eigene Umkehr immer noch aussteht.

Von Gericht, Umkehr, dem Ernst der Nähe Gottes – die Zumutung einer schmerzhaften Wandlung und die schweißtreibende Anstrengung des Straßenbaus höre ich ungern: Ich scheue die Knochenarbeit einer Piste im Wüstensand, damit ein ganz anderer zu mir gelangen kann. Muss das sein, wo uns auch ohne solche Bußprediger das Brüchige dieser Welt vor Augen geführt wird? Das Erfreuliche der Nachricht „Das Himmelreich ist nahe“ paart sich bei Johannes mit dem Druck des Countdowns, das Ja ist unter dem Nein tief verborgen und dem Sound der Wüste: Tut was! Bloß keine Müdigkeit! Bloß keine „Entdeckung der Langsamkeit“. Wandelt euch endlich, denn Gott ist euch näher, als ihr denkt und glaubt. Er kommt euch anders, als ihr erwartet. Ich wehre ab: So viel liegt im Argen in Kirche und Welt. Da brauchen wir nicht noch einen Moralisten, der gegen meine Adventsstimmung anpredigt. Nach Bußpredigten, unangenehmen Diagnosen und Knochenarbeit an mir steht mir nicht der Sinn.

Ein starker Mann mit starken Worten, der doch „nur“ mit Wasser tauft und die Leute nicht an sich bindet. Ihr müsst nicht auf mich warten, mich kopieren: Ich bereite einem anderen den Boden und ihr müsst euren ureigenen Weg zu diesem Kommenden finden. Für diesen anderen lohnt sich die Reform des Herzens. Reform steht an, und jeder und jede von uns muss damit bei sich selbst anfangen und noch heute damit anfangen. Ich ahne: Genau dieser Neuanfang in der viel zitierten „Zeitenwende“ steht an. Wenn ich Leuten wie Johannes begegne, dann muss ich gestehen: Sie faszinieren, weil sie stimmig sind, weil sie bereits eine Predigt sind, bevor sie den Mund aufmachen. In Leuten wie ihnen glüht noch das Feuer der Gottesleidenschaft, Männer wie er passen in diese „Schwellenzeit“.

Denn etwas Altes geht zu Ende. Das spüren wir allenthalben. Denkmuster der Vergangenheit sind auf einmal fragwürdig geworden, alte Gewissheiten gelten nicht mehr. Womöglich können wir mit diesem Johannes wenig anfangen und verstopfen die Ohren vor seiner unüberhörbaren Stimme. Vielleicht ist mir die Erinnerung daran, wie nahe Er uns ist und mir kommen will, eher unangenehm. Gott des Advents, bleibe mir noch ein wenig vom Hals. Wir spüren, dass die Liturgie, die wir hier feiern, neben der Liturgie nebenherläuft, die draußen auf den Weihnachtsmärkten, den festlich dekorierten Adventswegen der Fußgängerzonen und bei diversen Weihnachtsfeiern zelebriert wird. Johannes, der wie ein Vorarbeiter eines Straßenbauunternehmers wirkt, erinnert mich daran, dass Gott nicht einfach auf der Straße liegt und vor der Tür steht. Der Gott des Advents sucht ein Volk des Advents. ER wartet auf mich. Er hofft, dass ich rückwärtsgehe, wenn ich auf der Stelle trete oder in Sackgassen stecke. Ja, nicht immer ist der Weg vorwärts der Befreiungsschlag, sondern die Erkenntnis: Umkehr kann Rückkehr sein zur ersten Liebe, zu Menschen, die ich hinter mich gelassen habe, zur Quelle des Lebens. Johannes bezeugt: Gott ist nicht unnahbar. Wir dürfen Gottes Nähe erhoffen und vielleicht Vorzeichen des Kommens Gottes wahrnehmen. Denn: ER will dazwischenkommen. Er ist im Kommen, nicht greifbar nah, nicht dinghaft präsent. Und wenn er kommt, dann als der große Durcheinanderbringer des Status quo.

Ich bin kein geborener Bußprediger. Ich drängle nicht gerne. Moralpredigten stehen mir nicht zu. Uns fehlen die Worte für Gottes leise Annäherung und zugleich sind wir so hoffnungsbedürftig. Mehr als lange Predigten brauchen unsere „aufgescheuchten Seelen“ leise Zeichen des uns blühenden offenen Himmels; Zeichen, die keinen Stress machen und doch meine Wahrnehmungskraft schärfen, meine Vorfreude auf Gottes Wandlungskraft und auch meine Diesseitshoffnung wecken. Darum haben wir Bilder, Lieder und Zeichen des Neuanfangs so nötig. „Die Steppe wird blühen“, so heißt ein schönes Lied von Huub Oosterhuis. Die Steppen-Wüste ist nicht nur der Ort des Todes. Gott kommt aus der Wüste! Hier geschieht Gottes Erscheinen, hier wächst das Leben. Die Wüste lebt! Advent ist die Zeit, in der der Herr aus Wüsten in mir blühende Gärten machen will. Heute ist das Fest der heiligen Barbara.

Die Legende erzählt, diese mutige Christin aus Nikomedia habe in ihrem Kerker einen kahlen Kirschbaumzweig, der sich in ihrem Gewand verfangen hat, in einem Krug Wasser aufbewahrt. Je länger die Gefangenschaft vor ihrem Martyrium dauerte, desto mehr regte sich Leben in dem kahlen Zweig. „Du schienst wie tot, doch du lebst“, sagte sie. Am Tag ihrer Hinrichtung sei der Zweig weiß von Blüten gewesen. In dieser dunklen Zeit und diffusen ‚Zeitenwende‘ spricht ein solcher Zweig, der spätestens am Heiligen Abend in Blüte steht, ein machtvolles Widerwort: Das Leben – stärker als alle Mächte des Todes. Oh ja! Wir brauchen solche Naturbilder als Gleichnisse des Himmelreiches; wir brauchen kleine Hoffnungsvisionen und Bilder des Neuanfangs. Ein Zweig in dürrer und kalter Zeit ist das große „Dennoch“. Wir brauchen wie Noah nach der großen Flut den Olivenzweig im Schnabel einer Taube, das Hoffnungsbild Jesu vom blühenden Feigenbaum , den Isai-Sprössling, den Reis aus dem abgehackten Baumstumpf, die „Rose Jerichos“ in der Wüste – und eben diesen Barbarazweig. Hoffentlich steht der Forsythien-Zweig, den Sie in die Vasen Ihrer Wohnung stellen, zur Weihnacht in voller Blüte! Hoffentlich blühen wir auf zu adventlichen Menschen, die sich von Johannes zum Advents-Abenteuer bewegen lassen, dem leisen, entgegenkommenden Gott entgegenhoffen und auf das Wandlungswunder des Blühens warten.

Manfred Wacker