Jetzt ist sie wieder da, die „dunkle Jahreszeit“ – und mit ihr der November, der Monat des Gedenkens. Denken Sie nur an den „deutschen Schicksalstag“, den 9. November, ein Datum, den wir mit viel Leid, aber auch mit unbändiger Freude verbinden. 1848 – das Scheitern der Märzrevolution, 1918 – die Novemberrevolution mit dem Ausruf der ersten deutschen Republik von Weimar, 1938 – die Reichspogromnacht, in der jüdische Geschäfte und Synagogen brannten; und 1989, den Tag, an dem die Berliner Mauer fiel.
Und dann gibt es natürlich noch den „Volkstrauertag“, ein staatliches Gedenken an alle Opfer von Krieg und Gewalt, eine Woche später dann den „Totensonntag“, den Totengedenktag unserer evangelischen Geschwister.
Beginnen tut dieser November allerdings mit Allerheiligen und Allerseelen, den Tagen, an denen wir besonders an unsere lieben Verstorbenen denken.
Was für ein Monat – scheinbar erdrückend und dunkel zugleich… Die letzten Blätter fallen… die Natur scheint in unsere Emotionen hineinzusterben, die Tage werden immer finsterer.
Ich erinnere mich gut daran, wo ich als Kind gemeinsam mit der ganzen Familie diesen Monat wie so viele auf dem Friedhof begann. Irgendwie bedrückend und zugleich schön. In die Dunkelheit hinein leuchten wie zum Trotz die Kerzen auf den Gräbern unserer Lieben.
Und ich vergesse nie, wie ich erstmals einen fast dunklen Fleck auf dem Friedhof erblickte… ein Feld mit kleinen quadratischen Steinen, wo beinahe verlegen eine einsame Kerze brannte. Neugierig, wie Kinder nun mal sind, kam ich vorsichtig näher, um zu schauen, was dort zu finden war. Ich las die beinahe verwitterten Inschriften, auf vielen stand „Unbekannt“ und dann das Herkunftsland, bei den meisten Russland.
Abends, beim gemeinsamen Essen, fragte ich Opa, was das zu bedeuten hatte. Er, selbst Soldat im 2. Weltkrieg, erzählte es mir. „Und alle ‚Unbekannt‘?“, fragte ich erstaunt. „Ja“, erwiderte er, „von all diesen Menschen kannten sie damals den Namen nicht.“
In der Folgenacht schlief ich kaum. Ich überlegte, dass diese Verstorbenen doch wohl auch Verwandte hatten, dass sie Väter und Mütter, Geschwister und vielleicht Ehegatten und sogar schon Kinder hatten. Und dann liegen sie hier, tausende Kilometer weit entfernt auf dem Friedhof, wo mein Vater beigesetzt ist. „Norbert“ heißt er, für mich war er Papa.
Aber „Unbekannt“?
Das geht doch nicht, oder?! Und so nahm ich einen Tag später größere Kieselsteine und schrieb Namen darauf. Einfach, was mir einfiel. Mit einem kleinen Sack ging ich wieder zu diesem Feld und legte auf jeden Stein, der mit „Unbekannt“ beschriftet war, einen Namen, wie zum Trotz.
Heute schmunzle ich in Erinnerung darüber so manches Mal.
Wir Menschen verbinden mit dem Namen unserer Lieben so viel; und nicht umsonst wird zu Beginn einer Taufzeremonie nach dem Namen des Täuflings gefragt – als ob man den nicht schon von der Anmeldung her kennt.
Mit diesem Namen ist uns ein „Du“ – ein Gegenüber – geschenkt. Mit diesem Namen sind wir ansprechbar, können andere Menschen ansprechen, berühren und so in Beziehung treten.
„Ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir!“ So heißt es beim Propheten Jesaja über Israel. Mit diesem unserem Namen ruft uns Gott, ruft er jeden seiner Menschenkinder. Vor ihm und für ihn ist niemand „Unbekannt“ … Niemals!
Ihr und euer Oliver „Oli“ Schütte, Vikar