Predigt Weihnachten am Tage 2022

I.

Liebe Schwestern und Brüder,

viele von ihnen besitzen eine Krippe. Familien mit Kindern mögen robuste Ostheimerfiguren, mit denen man spielen kann, andere hüten die Gipskrippe der Großeltern, wieder andere haben selbst getöpfert oder gebastelt, da gibts Tiroler Schnitzkrippen, Krippen aus Lateinamerika oder direkt aus dem Hl. Land.

Ich möchte ihnen heute Morgen kurz erzählen von einer unserer ältesten Krippendarstellungen überhaupt. Es ist ein gemaltes Bild. Es ist zu sehen an einer Holzdecke im Schweizer Ort Zillis und stammt aus der Zeit um 1140. In einem Steintrog, (oder einem Sarkophag, also ein steinerner Sarg?), liegt das Kind, fest in Windeln eingewickelt bis zum Hals, wie eine Mumie. Neben ihm keine Maria, kein Josef, kein Hirte, über ihm kein Engel, kein Stern, nichts, außer Ochse und Esel, die ihre Köpfe in den Trog recken. Wie im Gefängnis, total passiv, liegt das Kind gefesselt und ungeschützt in der Einsamkeit. An Lebendigem nur zwei Tiere, die ihm ihr I-ah und Muh zuzurufen scheinen…

II.

Ich glaube, dieses Weihnachtsbild sagt viel genauer, viel tiefer, was Weihnachten ist, als die immer idyllischer werdenden Krippen der späteren Jahrhunderte. Um das zu verstehen, kann uns die Lesung aus dem Buch Jesaja, die wir gehört haben, helfen.

Es ist die Zeit, in der das Volk Israel ins Exil nach Babylon verschleppt worden war. Israel hatte alles verspielt, menschlich gesprochen durch Anmaßung, geistlich gesprochen durch Unglaube: Land und Heimat, Hab und Gut, die ganze Zukunft – alles hin! Mit im Exil ein prophetischer Mann, der sich nach seinem großen Vorbild Jesaja nennt. Er spricht als Verbannter zu den Verbannten.

Und er spricht auf eine ganz besondere Weise:

Jesaja rechnet dem Volk nicht vor, wie Recht alle Propheten mit ihren Warnungen hatten, auf die niemand gehört hatte. Er reibt ihnen nicht unter die Nase, daß ihnen das alles Recht geschieht, weil sie sich von Gott abgewendete haben. Nein, Jesaja tröstet! Und Jesaja kann trösten, nicht nur ver-trösten, weil er es wagt, auch noch das Exil mit den Augen des Glaubens anzuschauen.

Und dabei geht ihm etwas auf: wenn Gott wirklich Gott ist, dann hält er nicht nur das Volk Israel in seiner Hand, sondern auch all die anderen Völker, sogar die Feinde Israels und am Ende sogar Himmel und Erde selbst! „Trotz unserer Untreu wird Gott uns nicht abschreiben.“, bedeutet das für Jesaja. „Gott bleibt sich treu, er, der uns erschaffen hat, er der uns einst aus der Knechtschaft Ägyptens befreit hat, er der uns seine Nähe im Bund am Gottesberg geschenkt hat, er bleibt sich treu!“

Und weiter leuchtet Jesaja ein: „Indem Gott sich treu bleibt, bleibt er uns treu!“ Und das ist eine radikal neue Einsicht. Das ist der Punkt, an dem Jesaja das Wesen Gottes zutiefst versteht! Und diese Einsicht, wer Gott ist, wenn er Gott ist, die weckt in Jesaja eine unglaubliche Zuversicht. Und diese Zuversicht läßt ihn mitten in der Verbannung vom Ende der Verbannung nicht sprechen, sondern sogar singen:

III.

Jerusalem liegt in Trümmern, aber über die Berge, die die Stadt umgeben, kommt ein Eilbote aus Babylon gelaufen und ruft: „Das Elend ist vorbei! Es ist wieder Friede, du bist gerettet! Dein Gott ist König! Nicht Menschen oder ihre Götzen halten den Lauf der Welt in ihrer Hand, sondern dein Gott, der dich erschaffen und schon einmal gerettet hat. Er ist der Treue!“

Von Wächtern spricht Jesaja – damit meint er sich und alle, die gespannt auf ein Zeichen für das Ende der Not lauschen und mit einem Mal anfangen zu jubeln. „Denn sie sehen mit eigenen Augen, wie der Herr nach Zion zurückkehrt.“, heißt es im Text. Und das ist der eigentliche Grund, warum Jesaja so getröstet ist und so trösten kann. In diesem Satz klingt etwas Geheimnisvolles auf, das Jesaja verstanden hat. Das Wort „zurückkehren“, das Jesaja benutzt, ist dasselbe Wort, das man auch für „umkehren“ oder „sich bekehren“ benutzt. Umkehr, Bekehrung sagt Jesaja jetzt von Gott.

Menschlich gesehen wäre es ja so: die, die sich von Gott abgewandt haben, die müssen umkehren und sich Gott wieder zuwenden. Stattdessen sagt Jesaja: Gott kehrt um! Er kehrt zurück zum Menschen. Gott geht selbst ins Exil, damit die Menschen nicht heimatlos bleiben!

IV.

Es ist wichtig, zu beachten, wohin Gott kommt. Jesaja betont, Gott kehre zurück nach Zion, dahin also, wo alles in Trümmern liegt, wo alles in Schutt und Asche gehauen ist, wo kein Leben ist – Gott in der Fremde!

Eltern waten selbst durch den Schlamm, wenn das Kind in die Matsche gefallen ist. Sie heben es auf und trösten es. So ist auch Gott! Er läßt uns nicht liegen, wo unser Leben in Trümmer ging, wo wir vielleicht selbst Ruinen, Ruinierte sind. Deswegen kann  Jesaja so rätselhaft sagen: „Brecht in Jubel aus, jauchzt alle zusammen, ihr Trümmer Jerusalems!“ Wem sein Leben schon einmal wie ein Trümmerhaufen vorgekommen ist und wer dann von einem guten Menschen in den Arm genommen wurde, der weiß, was Jesaja meint.

So stellt Jesaja sich die Erlösung aus der Verbannung vor: Gott wird stärker sein als alle Gewalt und Unterdrückung. Und Gott wird seine Stärke auch zeigen. Er enthüllt, wer er ist: „Der Herr macht seinen heiligen Arm frei.“, schreibt Jesaja. Gott krempelt also die Ärmel hoch, wie ein Boxer, der das hinderliche Gewand zurückschiebt, um besser zuschlagen zu können. Anders als in dieser Gebärde kann sich Jesaja Gottes Macht in seiner Exils-Ohnmacht nicht vorstellen. Und alle werden das sehen: „Alle Enden der Erde schauen das Heil unseres Gottes!“

Jesaja war sicherlich überzeugt, daß wahr ist, was er von Gott verkündet.

Er verkündet einen Gott, der nicht auf seine Majestät und sein Recht bedacht ist.

Es ist ein Gott der sein Oberstes zuunterst kehrt und umkehrt zu denen, die der Umkehr bedürfen.

Es ist ein Gott, der den Himmelsthron eintauscht für die Trümmer Zions.

Es ist ein Gott, der tröstend zeigt, wer er wirklich ist.

Daß das alles wahr ist, dessen war sich Jesaja sicher – wie sehr wahr es geworden ist, hat er nicht ahnen können…

VI.

Wenn Christinnen und Christen etwas nachdenken über den, nach dem sie sich nennen, über diesen Jesus Christus von Nazareth, geboren in Betlehem;

Wenn sie im Herzen bedenken, was er sagte, tat, wie er war, dann werden sie vielleicht ahnen, daß dieser Jesus untrennbar zu Gott gehört, daß dieser Jesus lebendiges Gleichnis Gottes aus Fleisch und Blut ist. Wenn sie also sagen, Gott ist Mensch geworden in diesem Jesus Christus, dann bewegen sie sich auf einmal in den Spuren, die Jesaja Jahrtausende vorher gegangen war. Die Linie, die Jesaja nur tastend gezogen hatte, die ziehen die Christen ganz aus. Und am Ende steht, fast wie von selbst, ein Bild, wie an der Decke in der Kirche im schweizerischen Zillis, von dem ich eingangs der Predigt erzählt habe:

Ein Gott, der seine ganze Herrlichkeit drangibt und der dahin geht, wo er gar nicht hinpasst, ins Gottesexil nämlich, in die Trümmer, in die Armut. Wir sehen einen Gott der umkehrt und sich zu den Menschen hinkehrt.

Und weil das so ist, teilt er alles mit uns Menschen, was zum Menschsein dazu gehört. Wenn wir ehrlich zueinander sind, dann bedeutet Menschsein nämlich, bei aller Freude, die wir auch erleben: Ausgesetztsein, Ohnmacht, Gebundenheit, im allerletzten auf uns allein gestellt – wie das eingewickelte Kind im Steintrog, ohne eine Menschenseele bei ihm. Nur noch Ochs und Esel an seiner Seite – Sinnbilder für die Sehnsucht unserer Seele, es möchte doch alles gut sein mit uns, so wie es ist…

Gott tröstet uns am heutigen Festtag, indem er wird, was wir sind und indem er damit sagt: „Ja, es ist gut mit dir! Hab keine Angst, ich bin auch da noch bei dir, wo dein Leben in Trümmern liegt. Ich bin auch dann noch da, wenn du nichts mehr hast, außer daß es dich gibt!“

VII.

Schwestern und Brüder,

denken sie am Ende noch einmal an den entblößten Arm Gottes, von dem Jesaja gesprochen hat. Mit dem heutigen Fest der Menschwerdung Gottes erkennen wir: das war gar kein gewalttätiger Boxerarm! Das war damals nur der Anfang von dem, was sich heute deutlich erkennen läßt: Gott legt all seine Gewänder ab und wird ein nacktes Kind. Das ist das allerletzte Geheimnis unseres Gottes!

Wer sich diesem Geheimnis öffnet, wer das Bild vom wehrlosen Kind im Steintrog in sein Herz läßt, in dem regt sich vielleicht das Gefühl, er oder sie müsse dieses Kind wärmen und trösten. Wer heute so mit Gott empfindet, der findet sich tröstend schon getröstet!

Amen.