6. Sonntag der Osterzeit B, 9. 5. 2021

Manchmal sind es Kalenderdaten, die uns helfen, den Sinn unseres Lebens zu deuten. Im Privaten sind das etwa Geburtstag oder Hochzeitstag und die entsprechenden Jahrestage. Und im öffentlichen Leben sind es ebenfalls Gedenktage oder Feste, die uns helfen unser Leben zu deuten oder ihm eine Bedeutung zu geben. Es war für mich beeindruckend, als ich in der vorletzten Woche eine Frau beerdigen musste, die mit 102 Jahren verstorben war. Der Enkel ordnete in einer kurzen Ansprache das Leben seiner Großmutter ein: Geboren 1919 zur Zeit, als in der Welt die Spanische Grippe wütete und gestorben 2021, als Corona die Welt im Griff hatte, ein Leben eingebettet zwischen diesen Jahrhundertereignissen.

Auch der heutige Tag fällt mit Daten zusammen, die aufmerken lassen: der 9. Mai 1945 ist der Tag, an dem in Berlin-Karlshorst die Wehrmacht endgültig die Kapitulationsurkunde unterzeichnet hat und damit der 2. Weltkrieg in Europa zu Ende war. Bereits einen Tag zuvor am 8. Mai war in Reims in Frankreich bereits der Krieg mit den Westmächten beendet worden. Richard von Weizsäcker hat als Bundespräsident 1985 eindrucksvoll davon gesprochen und diesen Tag als einen Tag der Befreiung bezeichnet. Jedes Jahr wird an diesen Tagen an das Ende des Krieges erinnert, um das Grauen, das damit verbunden war, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Der heutige Tag beinhaltet aber noch mehr: vor genau 100 Jahren wurde Sophie Scholl geboren, die zusammen mit ihrem Bruder Hans und anderen Gefährten im Widerstand gegen die Nazis aktiv war und im Februar 1943 beim Verteilen von Flugblättern in der Universität von München aufgeflogen war und daraufhin vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt wurde und mit 22 Jahren unter dem Fallbeil sterben musste. Sie war nicht nur Widerstandkämpferin in der ‚Weißen Rose‘, sondern auch eine tiefgläubige evangelische Christin. (Hier im Zentrum ist bereits seit fast 50 Jahren einer der Gruppenräume nach den beiden Geschwistern benannt – der Schollraum.)

Wir erinnern uns daran, wir erzählen uns darüber, wir schauen uns Filme und Dokumentationen darüber an, wie lesen Bücher darüber.

Was bewegt Menschen, aus der Geschichte zu lernen und sich damit immer wieder auseinanderzusetzen? Dahinter muss doch ein starker Impuls stecken. Wenn man selch Beschimpfungen in Kauf nimmt, wie es damals beim Bundespräsidenten der Fall war, der dann als Verräter beschimpft wurde oder wie es bei den Geschwistern Scholl der Fall, die wussten, dass sie durch ihr Handeln ihr Leben riskierten. Ein solcher Impuls ist immer auch die Botschaft des Evangeliums, gerade in dem Ausschnitt, den wir heute gehört haben: ‚Gott ist die Liebe!‘ und: ‚Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.‘ das ist ein solch starker und bewegender Impuls, dass er immer wieder Menschen inspiriert hat, ihr Leben daran auszurichten. Und es tut gut, an die Menschen zu erinnern, die sich das zu Herzen genommen haben.

Nun brauchen wir heute in unserem Land nicht mit einem verbrecherischen System wie dem Nationalsozialismus auseinandersetzen, aber die Botschaft des Evangeliums gilt auch heute. Der Umgang miteinander in diesen Zeiten der Einschränkungen und den Folgen der Pandemie verlangt ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen, an Rücksichtnahme, an Geduld und an Verzicht. Wir brauchen viel Fantasie und neue Wege, um miteinander in Kontakt zu bleiben und ein hohes Maß an gutem Willen und Einsicht. Lieben – das ist nie abstrakt, sondern immer sehr konkret. Das geht von der Sorge für Erkrankte, über die Stärkung von überforderten Familien bis hin zu einem klaren Wort und unmissverständlichen Ansage für diejenigen, die andere bewusst und unbewusst gefährden.

Das Grundgebot christlicher Liebe kann sich in wechselnden Umständen immer neu konkretisieren. Und so wie wir heute überall Geschwister-Scholl-Gymnasien haben, so werden uns in einigen Jahren auch Gedenktage oder Denkmäler an die Pandemie erinnern und an die Menschen, die in dieser Zeit über sich hinausgewachsen sind. Und die unter dem ganzen Unrat des kirchlichen Versagens und der dogmatischen Starre den Schatz des Evangeliums immer neu entdecken und freilegen.

Reinhard Bürger