Predigt 31. Sonntag im Jahreskreis B 2021
Liebe Schwestern und Brüder,
wieder einmal kommt ein Schriftgelehrter mit einer Frage zu Jesus. Der Evangelist Markus schreibt nicht, warum der Schriftgelehrte diese Frage stellt. Oft steht ja ganz ausdrücklich in den Evangelien, Jesus werde gefragt „…um ihn auf die Probe zu stellen.“ Das steht da heute nicht; aber wir dürfen annehmen, daß das auch im heutigen Evangelium so der Fall ist, es sei denn dieser Schriftgelehrte sei in einer Glaubenskrise. Darauf läßt aber der weitere Gesprächsverlauf nicht schließen.
Und so fragt der Schriftgelehrte: „Welches Gebot ist das erste von allen?“
Und wenn er hier von Geboten spricht, dann meint er nicht nur die 10 Gebote. Die 10 Gebote wurden im Laufe der Zeit ausgefaltet zu ungefähr 600 Geboten, die gläubige Juden und Jüdinenn angehalten waren zu befolgen. Ob Normalgläubige die alle kannten ist die Frage. Und waren die überhaupt alle zu halten, wenn man seinem Beruf und seiner Arbeit nachging?
Und von daher ist es schon etwas Revolutionäres, wenn Jesus im heutigen Evangelium den Mut hat, diese 600 Gesetze einfach zusammenzufassen im sogenannten Doppelgebot, das ja eigentlich ein Dreifachgebot ist: „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben…und deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Und in diesem Satz steckt schon die nächste Revolution Jesu: er setzt die drei Gebote einander gleich, er stellt sie auf eine Stufe: Gott – den Nächsten – sich selbst. Keins ist so wichtig, daß das andere dafür übersehen werden dürfte. Nicht erst das eine tun und dann vielleicht das andere, sondern alles drei gleichzeitig: Gott lieben, den Nächsten lieben, sich selbst lieben.
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Mit diesem revolutionären Dreifachgebot fasst Jesus das zusammen, was er als seine Sendung betrachtet, das ist die Essenz seiner Botschaft. Und diese Botschaft sagt: Da ist ein Gott, der nicht alle Liebe für sich allein haben will, sondern der will, daß wir diese Liebe teilen. Jesus verkündet einen Gott, der nicht allein in den Blick genommen werden möchte. Der Gott, den Jesus verkündet, will nicht das Entweder-Oder – Gott ODER Mensch – sondern der will das UND: Gott UND Mitmensch UND sich selbst.
Wir glauben an einen Gott, der sogar will, daß wir uns selbst lieben, auf uns selbst Acht geben, denn die Liebe zu uns selbst soll ja der Maßstab sein für die Liebe zu unserem Nächsten. So wie wir uns selbst lieben, sollen wir die anderen lieben.
Damit verkündet Jesus einen Gott, der nicht will, daß wir irgendetwas an uns selbst verachten oder klein machen, der nicht will, daß wir uns nicht um uns sorgen, sondern der will, daß wir uns selbst annehmen und ernst nehmen und gut auch zu uns selbst sind. Unser Gott weiß, daß man zu anderen nur wirklich gut und liebevoll sein kann, wenn man mit sich selbst im Reinen ist, wenn man sich selbst akzeptiert wie man ist, und wenn man gut mit sich selbst umgeht…
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Dafür, daß dieses Dreifachgebot in den Augen Jesu die Zusammenfassung aller Gebote ist, ist das Christentum damit nie wirklich gut umgegangen. Wie oft wurde da durchnummeriert: und dann stand immer die Gottesliebe auf Nummer eins, als zweites kam die Nächstenliebe; und die Liebe zu sich selbst, die fiel als Sünde unter den Tisch.
Liebe zu sich selbst – das wurde und wird oft als Egoismus abgetan. Wieviel Verbissenheit in der Gottes- und Nächstenliebe hat es nicht gegeben, weil man selbst immer zu kurz kam. Und war man mal gut zu sich selbst, dann immer freudlos und mit einem schlechten Gewissen. Freudlosigkeit und Verbissenheit sind aber keine gute Werbung für den Gott der Liebe.
Der hl. Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert, der kannte diesen Zusammenhang noch, wenn er schreibt: „Gott wird durch nichts mehr beleidigt, als durch das, was wir gegen unser Wohl und das des Nächsten tun.“
Liebe Schwestern und Brüder,
gegen Ende des Kirchenjahres wird uns eindringlich Jesu Dreifachgebot ans Herz gelegt: das eine geht nicht ohne das andere: Es gibt keine Liebe zu Gott, wenn es nicht zugleich die Liebe zu den Menschen gibt – denn Gott selbst ist Mensch geworden! Wer Gott sucht, der kann nicht am Menschen vorbei suchen, denn Gott wohnt unter den Menschen – und in den Menschen – in dir, in mir, in allen!
AMEN.