Es war am Sonntag, den 8. Oktober. Ich habe die Sonntagsmesse in St. Bonifatius in Kirchderne. Als ich die Kirche betrete, fällt mir ein Mann auf, der bereits in der Kirche sitzt. Ich habe ihn noch nie gesehen, Schwarzafrikaner, recht jung. Auffällig ist, dass er während des ganzen Gottesdienstes eine Mütze trägt. Er geht auch nicht zur Kommunion. Später stellt sich heraus, dass er Muslim ist. Er spricht mich nach dem Gottesdienst an. Ich bin dankbar dafür, dass ich Französisch spreche und mich so mit ihm unterhalten kann. Er erzählt mir, dass er zur Zeit in einer Flüchtlingsunterkunft in Derne lebt, mit 10 Personen in einem Raum. Dieser Zustand sei für ihn unerträglich, er fände kaum Schlaf: ob ich ihm helfen könne, eine Unterkunft zu finden. Nun bin ich unter Zeitdruck, weil ich direkt zur Franziskus-Gemeinde weitermuss, die an diesem Sonntag ihr Patronatsfest feiert. Ich sage ihm, dass wir ihm nur eine Notschlafstelle anbieten können. Er geht also mit in seinen zweiten Gottesdienst an diesem Sonntag und im Anschluss kann ich ihm die Notschlafstelle zeigen, ein einfacher Raum mit Bett und Tisch, Waschbecken, Toilette und Heizung. Vor allem aber mit abschließbarer Tür. Er ist begeistert und sagt sofort zu. Er will nur raus aus der Flüchtlingsunterkunft. Direkt am Franziskus-Fest kann er erste Kontakte knüpfen und sich auch sattessen. Unterwegs im Auto hatte er mir erzählt, dass er Thierno heißt, aus Guinea stammt und sich mit seinen 19 Jahren allein auf den Weg gemacht hat. Er macht einen sehr sympathischen, klaren und lebenstüchtigen Eindruck. Ich frage mich: welcher Druck muss einen jungen Menschen bewegen, sich allein auf den Weg in eine ihm völlig unbekannte Welt zu begeben und seine Familie und Freunde zurückzulassen?

In den folgenden Wochen besucht er eine Sprachschule in Eving und ist jedes Mal sehr stolz, wenn er das am Morgen Gelernte nachmittags im Gespräch mit mir und anderen Personen aus der Gemeinde schon anwenden kann. Er weiß natürlich, dass das Notquartier wirklich nur eine Notlösung ist. Aber es ist schwierig, in Dortmund eine adäquate Bleibe zu finden. Die Herbergssuche läuft ins Leere, obwohl auch unser neuer Obdachlosenseelsorger Oliver Schütte sich einschaltet. Auch die Formalitäten gestalten sich sehr schwierig. Zwischendurch deutet er schon an, eventuell nach Norwegen weiterzuziehen, weil es dort weniger Flüchtlinge gibt: da soll es einfacher sein.

Am 1. Dezember ist es dann für ihn so weit. Er spricht mich an und zeigt mir ein Ticket für den Flix-Bus nach Oslo über Kopenhagen. Am nächsten Abend will er aufbrechen. Er sieht hier für sich keine Chance mehr.

Am Samstag vor dem 1. Advent räumt er dann das Notquartier auf und verabschiedet sich bei mir. Er bedankt sich noch einmal für diese einfache Herberge und für die freundlichen Menschen, die er hier kennengelernt hat. Mich bewegt dieser Abschied sehr. Ich kann ihm noch ein paar Euros zustecken, damit er unterwegs nicht völlig mittellos dasteht. Durch diese Begegnung habe ich einmal mehr begriffen, was wir an Weihnachten feiern werden: Gott will uns die Augen öffnen für die Wirklichkeit dieser Welt. Und ein großer Teil dieser Wirklichkeit heißt ‚Flucht‘. Flucht vor Gewalt, vor Zerstörung, vor Missbrauch, auch Flucht vor der eigenen inneren Leere. Und die Weihnachtsgeschichte der Evangelien stellt genau das dar. In der Begegnung mit diesem jungen Menschen mit seiner Geschichte, mit seinen Hoffnungen und seiner Energie habe ich selbst mehr von Weihnachten erlebt als mit einem noch so hohen Tannenbaum. Bethlehem kann manchmal ganz nah sein.

Reinhard Bürger