1 Kor 12,12-31a

Ein Schnitt am Finger, ein verknackster Zeh – wie wichtig jede einzelne Stelle des Körpers ist, zeigt sich spätestens dann, wenn etwas schmerzt. Schon eine kleine Verletzung an einer kleinen Stelle kann unsere ganze Aufmerksamkeit binden und verändert unser Wohlbefinden. Wir kommen nicht darum herum, uns um diese Stelle zu kümmern.

Dem folgend kann ich das Bild aus der heutigen Lesung vom Leib und den vielen Gliedern, die eine Einheit bilden, gut nachvollziehen. Jedes einzelne Glied des Körpers trägt dazu bei, dass der Körper als Einheit funktioniert. Ist eines davon beeinträchtigt, dann leidet der ganze Körper.

Übertragen auf unsere Gemeinschaft als Menschen und auch auf unsere Gemeinschaft als Kirche bedeutet das: Wir dürfen diejenigen, denen es nicht gut geht und die Hilfe brauchen, nicht aus dem Blick verlieren. Es schadet dem Gleichgewicht und auch der Ganzheit der Gesellschaft, der Natur, der Kirche, der Politik – im Grunde dem Gleichgewicht und der Ganzheit allen Lebens, wenn nur „stark, erfolgreich und gesund“ zählt. Dabei kommen nicht alle mit. Ausgewogenes Leben kann sich nur dann entwickeln, wenn auch das Schwache, Leise, Unperfekte, der Kummer und die Angst eine wichtige Rolle spielen dürfen und beachtet werden.

Allen Gliedern eines Körpers Aufmerksamkeit und Wert geben, das fängt im übertragenen Sinn schon in einfachen Gesprächssituationen an. Oft erlebe ich es in Gruppen, dass sich die immer gleichen Wortführerinnen und Wortführer gerne und lange zu Wort melden. Auf Nachfrage bei den Stilleren höre ich dann meist Gedanken wie „Ich habe nicht so viel zu sagen wie die anderen“, oder „Ich habe das Gefühl, einfach nicht dazwischenzukommen“.

Dagegen erhebt der heutige Lesungstext entschiedenen Widerspruch. Es gibt niemanden in einer Gruppe, der oder die unwichtig ist. Jede und jeder Einzelne leistet einen Beitrag, den in dieser einmaligen Weise niemand anderes leisten kann. Das wird oft unterschätzt und nicht gesehen.

Ein Weiser sagte:

„Vergleiche dich mit niemandem. Halte den Kopf hoch und denke daran: Du bist weder besser noch schlechter. Du bist einfach nur du und das kann niemand überbieten.“

Wenn ich mich nicht einbringe, dann fehlt etwas, das niemand ersetzen kann! Für unsere Aufmerksamkeit anderen gegenüber bedeutet das: Wenn ich nicht mit dafür sorge, dass jedem Teil der Gruppe Aufmerksamkeit geschenkt wird und jeder Teil auf diese Weise seine Funktion ausüben kann, dann kann die Gruppe keine ausgeglichene Einheit bilden, dann fehlt eine wichtige Funktion.

Unweigerlich muss ich beim Bild vom Leib mit den vielen Gliedern auch an die Verfasstheit und Struktur der Kirche denken. Einer Kirche, die seit geraumer Zeit damit beschäftigt ist, negative Schlagzeilen zu produzieren. Dabei geht leider oft unter, dass sich in der Kirche zur Zeit auch einiges bewegt. In vielen Veränderungsprozessen der einzelnen Bistümer, beim synodalen Weg auf Bundesebene und demnächst bei der Bischofssynode auf Weltebene wird um die Einheit in der Kirche gerungen, sucht man nach Antworten auf die Fragen der Zeit. Es ist nicht so leicht wie bei einem Puzzle, wo jemand die Form vorgedacht hat und die einzelnen Teile nur noch so zusammengesetzt werden müssen, dass wieder das vorgeformte Bild entsteht.

Unsere Kirche ist aus der Form geraten, und es funktioniert nicht mehr, dass einzelne Mächtige vordenken und vorformen und alle anderen sich in diesem Rahmen bewegen. Eine Einheit der Kirche kann nur noch von unten wieder wachsen. Das klingt nach einer oft gehörten Floskel – aber es erscheint mir als der einzige Weg. Es muss eine Basis geben, auf der aufgebaut werden kann. Diese Basis bilden einzelne Menschen, die wichtig genommen und gesehen werden möchten.

Der und die Einzelne ist mit dafür verantwortlich, dass die Einheit der Kirche neu gebildet werden kann. Dazu muss jeder Einzelne und jede Einzelne auch davon überzeugt sein und einen persönlichen Mehrwert darin erkennen können, am Neuaufbau der Kirche mitzuwirken. Da hilft es nicht weiter, wenn sich wenige anmaßen, zu entscheiden, wer dazugehören darf und wer nicht oder welche Ideen die richtigen sind und welche nicht. Strukturen und Entscheidungen müssen sich am einzelnen Menschen orientieren – eben an dem einzelnen Glied, ohne das der Leib als Ganzer nicht alltagstauglich ist.

Entsprechend vielfältig werden dann auch die Formen sein, in denen Kirche zum Ausdruck kommen wird. Deshalb sollten wir alle den Kopf hochhalten, uns einbringen, uns gegenseitig in die Augen sehen und uns gegenseitig zuhören. So kann eine neue Kirche werden, ein neues WIR, das sich aus vielen wichtigen Teilen zusammensetzt.

Manfred Wacker