Predigt 7. Sonntag der Osterzeit Lesejahr B 2024

Schwestern und Brüder,

in der Zeit vor Ostern tauchte in den biblischen Texten häufiger eine Person auf, die uns heute, am vorletzten Sonntag der Osterzeit, noch einmal über den Weg läuft. Eine Person, die in den Evangelien meist nur am Rande erwähnt wird, die aber doch traurige Berühmtheit erlangt hat: Judas Iskariot.

Nehmen wir ihn heute Morgen etwas näher unter die Lupe.

Im 17. Jahrhundert schreibt der für seine geistreichen und humorvollen Predigten bekannte Wiener Hofprediger Abraham a Santa Clara über Judas: „Judas, der schlimme Hund, varrath, verschächert, vergibt, verkaufft, verwirfft, vertändelt, verhandelt den guldenen Jesum um Silber.“

Da hört es auch bei Abraham a Santa Clara auf mit dem Humor. Ganz gallig und verächtlich schreibt er das.

In 2000 Jahren Christentumsgeschichte hat man ein Feindbild von diesem Judas Iskariot aufgebaut, das alles verstellt, was diese tragische Figur uns und der Kirche auch heute noch zu sagen hätte.

Wenn man unsere vier Evangelien miteinander vergleicht, dann stellt man fest, daß die älteren Evangelien harmloser über Judas berichten, als die jüngeren. Je weiter man zeitlich weg ist von Tod und Auferstehung Jesu, desto mehr wird dieser Judas moralisch disqualifiziert:

aus einer eher spontan erfolgten Auslieferung Jesu wird ein schon länger geplanter Verrat,

Geldgier wird zum Motiv des Verrates,

der widerliche Judaskuss wird zum Beweis seines verkommenen Charakters,

angeblich vom Teufel besessen, wird er selbst zum Teufel.

Und die Sicht auf Judas wird im Verlauf der Kirchengeschichte nicht positiver. In manchen Gegenden gibt volksreligiöse Bräuche, wie das sogenannte „Judasjagen“ oder „Judasverbrennen.“ Auch die Kunst trägt dazu bei, aus ihm einen amoralischen Kriminellen zu machen. Judas wird zur Symbolgestalt des Lügners und Verräters schlechthin. Er wird der Repräsentant der Gottesmörder. Der Antikult um Judas Iskariot ist ein Motor des christlichen Judenhasses und Judenmordens, der seinen furchtbaren Höhepunkt findet in den Greul des Nationalsozialismus. In ganz tiefen Schichten mag das selbst beim heutigen Antisemitismus, dessen Zeugen wir gerade werden, noch eine Rolle spielen, mag die Entchristlichung auch noch so weit fortgeschritten sein… Einen „Erzschelm“ nennt Abraham a Santa Clara Judas. Er ist der Mensch ohne Zukunft, für den zu Recht nur Tod und Verdammnis bleiben.

Neuere Untersuchungen zeigen ein anderes Bild des historischen Judas. Obwohl er einer der Zwölf war, hat er offensichtlich, aus gar nicht einmal nur unverständlichen Gründen, die Seiten gewechselt. Judas sah seine Erwartungen, die er in Jesus gesetzt hatte, nicht erfüllt und so versuchte er, Jesus unter Zugzwang zu setzen.

Sicherlich war Judas an der Auslieferung Jesu an die Römer beteiligt, aber genauso sicher ist, daß er nicht allein schuldig war am Tod Jesu. Sowohl für die Römer als auch für die jüdische Herrschaftsschicht in Jerusalem hätte es in jedem Fall auch andere Wege gegeben, Jesus festzunehmen – dazu hätte es eines Judas nicht bedurft.

Auch über den Tod Judas Iskariots wissen wir nichts Genaues. Petrus sagt in der Ansprache vor den Aposteln, die wir gerade in der Lesung gehört haben, ganz rätselhaft: „Judas hat uns verlassen und ist an den Ort gegangen, der ihm bestimmt war.“ Eine Aussage, die zu Spekulationen reizt. Vielleicht hat er sich gar nicht selbst umgebracht, vielleicht hat er auch keinen anderen grässlichen Tod erlitten. Vielleicht hat sich Judas einfach von Jesus und seinen Ideen abgewandt und ist gegangen…

Wenn die Theologie in den letzten Jahren den „wirklichen“ Judas genauer hat kennenlernen wollen, dann wollte sie ihn nicht heiligsprechen. Aber wenn wir sorgfältiger mit den biblischen Texten umgehen, als das jahrhundertelang passiert ist, dann erkennen wir in Judas nicht den Ausbund an Falschheit und den infamen Gottesmörder, sondern wir erkennen einen enttäuschten Jünger.

Seine anfängliche Begeisterung für die Vision Jesu vom Reich Gottes war der bitteren Erfahrung gewichen, daß von diesem Reich wenig zu sehen und zu spüren war: Israel war noch immer ein besetztes Land und die Selbstbestimmung des jüdischen Volkes lag in weiter Ferne.

In Judas Augen lag das daran, daß Jesus seine Chancen nicht nutzte. Jesus macht nichts aus seinen offenkundigen Fähigkeiten, aus dem Ansehen seiner Person und seinem Führungscharisma. Judas verzweifelte an Jesu politischer Unentschlossenheit und Tatenlosigkeit. Am Ende wollte er Jesus zum Handeln zwingen. So mündete seine Enttäuschung in Verrat. Er hat Jesu Lehre vom Reich Gottes zu sehr politisch verstanden. Er hatte nicht verstanden, daß Jesu Reich nicht von dieser Welt ist…

Und solche Enttäuschung ist uns gar nicht so fremd.

In unseren Gemeinden wird gedacht, geplant, gearbeitet – und die Kirchen werden immer leerer und die Vereine und Gruppen immer älter.

Wir gehen in die Kirche, engagieren uns in der Gemeinde – und trotzdem werde ich krank und nicht der Nachbar, der nie zur Kirche geht.

Ich habe mir etwas so sehr gewünscht, habe so sehr gebetet – und alles ist anders gekommen, als ich das wollte.

Der liebende Gott, den Jesus verkündete, stellt sich in unserem Empfinden so oft als unbegreiflich und ohnmächtig heraus, sogar als unmenschlich.

Und schon meldet sich Judas auch in uns, meist dann, wenn es anders läuft, als wir hoffen und wollen… Und dann kommen die Gedanken des Zweifels, man wird skeptisch:

Ist vielleicht der Rückzug doch das Beste?

Sieht man am Ende am besten doch zu, daß man allein zurecht kommt?

Wieviel Verbitterung gibt es nicht auch unter uns Christinnen und Christen. Ein wenig Judas ist in uns allen…anscheinend so nah bei Jesus und doch so weit weg…

Sollte Judas sich nach dem Verrat tatsächlich nicht umgebracht haben, so hat er doch nach Ostern nicht zu Jesus zurückgefunden. – Anders als Petrus, der Jesus in der Nacht dreimal verleugnet hat und der trotzdem erster Apostel bleibt.

Die Apostelgeschichte erzählt uns heute von der Wahl des Matthias, des Nachfolgers des Judas. Man scheint die Person des Judas schnell vergessen zu wollen und komplettiert das Zwölferkollegium. Judas dient ab jetzt höchstens noch als abschreckendes Beispiel…

Und so bleiben uns Fragen:

Waren Judas Zweifel an der Osterbotschaft zu groß?

War er so sehr enttäuscht, daß ihn Selbstzweifel und Depressionen quälten?

Plagten ihn zu große Schuldgefühle?

War er nicht in der Lage, sich im wahrsten Sinne des Wortes ent-täuschen zu lassen? D.h. war er nicht in der Lage zu erkennen, daß er sich selbst ge-täuscht hatte in seinem Bild von Gottes Wegen. Hatte er sich so verstrickt in seine Täuschung, in sein selbstgemachtes Bild von Gott, daß er auch mit Jesu Hilfe nicht herausfinden konnte?

War es ihm nicht möglich, darauf zu vertrauen, daß Jesus ihm, dem Sünder, verzeiht, wie Jesus das so oft  mit so vielen getan hatte auf ihrem gemeinsamen Weg?

Schwestern und Brüder,

vielleicht spüren sie, daß wir glaubensmäßig eigentlich besser dran sind, als dieser Judas?

Wir haben die Heilige Schrift, wir haben das Zeugnis der zwölf Apostel, wir haben das Zeugnis einer 2000-jährigen Kirchengeschichte mit allen Licht-und Schattenseiten, um wirklich fröhlich an die Auferstehung Christi glauben zu können.

Wir haben in allen Abschnitten unseres Lebens Christi Beistand: in unseren Gottesdiensten, in den Sakramenten, in seinem Wort.

Wir haben sein Versprechen, daß er bei uns ist und uns stärkt und daß sein Geist uns mit ihm und untereinander verbindet.

Und wir haben die vielen Beispiele von Menschen, auch ganz in unserer Nähe, die ihr Leben und Sterben gemeistert haben im Vertrauen auf den Auferstandenen. Wir haben Beweise, daß ein Leben im Glauben an den auferstandenen Herrn wirklich erfüllend gelingen kann!

Gibt uns das die Kraft, unsere eigenen Enttäuschungen immer aufs Neue zu überwinden und Christus und seinem Wort und seinem Verständnis vom Leben wirklich zu vertrauen?

Gibt uns das den Mut, auch Wege zu gehen, die ich mir eigentlich nicht erträumt hatte?

Gibt uns das das Vertrauen, in unserem Leben loszulassen, nicht alles zu planen, sondern dankbar anzunehmen?

Ich wünsche es uns!

Wir können nur immer wieder, wie Jüngern vor der Wahl des Matthias, um Gottes Licht und Beistand  beten: „Du Herr, kennst die Herzen aller. Schenke mir deinen Geist, damit ich erkenne, welchen Weg du für mich erwählt hast.“

AMEN.