1. Adventssonntag A, 26/27 12.2022

Wie oft ist es mir schon passiert, dass ich abends vor dem Fernseher eingeschlafen bin, da konnten die Nachtrichten oder der Krimi noch so spannend sein. Der schwierigste Schritt ist es dann, aus dem Sessel aufzustehen, sich für’s Bett fertig zu machen und dann auch richtig ins Bett zu gehen. Oder viel schlimmer – der Sekundenschlaf im Auto. Ich möchte nicht wissen, wie vielen Autofahrer unter uns es schon einmal passiert ist, dass ihnen die Augen beim Fahren zugefallen sind, weil sie sich überschätzt haben. Oder wie oft passiert es selbst den besten Schülern, dass ihnen in der Stunde die Augen zufallen und der Lehrer sie dann fragen muss: träumst du?

Diese Müdigkeit hängt oft daran, dass man sich überschätzt, dass man sich zu wenige Pausen gönnt, dass man meint, etwas Besonderes leisten zu müssen. Dass man seine Kräfte falsch einschätzt. Vielleicht aber auch, dass man unterfordert ist, auch das kann gähnende Langeweile und Müdigkeit mit sich bringen. Und häufig ist es auch nach einer arbeitsreichen oder erlebnisreichen Lebensphase, dass man „müde“ ist. Nach einem vollgepackten Semester, nach Prüfungen, nach eine Stressphase im Beruf und auch nach einem reich gefüllten Kirchenjahr kann man an einen Punkt kommen, wo man ‚ausgepowerd’ ist, wo es einem alles zuviel wird, wo man nicht mehr wahrnimmt, was um einen herum passiert. Ich hatte einmal eine solche Situation, wo ich dann nicht mehr innerlich wach war und dann mit meinem Auto ziemlich heftig einem anderen Auto ins Heck gefahren bin. Ich habe noch ziemliches Glück gehabt, aber der andere war doch merklich verbogen.

So steht am Anfang des neuen Kirchenjahres die Botschaft vom Wach-Werden. So wie ich morgens beim Aufstehen, wenn ich gut geschlafen habe, wach und munter bin, mich frisch und unternehmungslustig fühle, so steht am Anfang des neuen Kirchenjahres genau diese Einladung: nämlich wach zu werden. Mehr gar nicht. Wach durchs Leben zu gehen, darauf kommt es an. Damit andere nicht sagen: Was für’n Penner! Und dass von den Christen nicht gesagt wird: was ist das für’n verschnarchtes Mittelalter. Der synodale Prozess in der deutschen Kirche soll das vorantreiben: wachsam sein heißt aufmerksam sein und die Zeichen der Zeit sehen. Aufmerksam werden, um die Zeitansage für ein Leben in der Nachfolge Jesu nicht zu verpassen. Das kann heißen: immer mal wieder auf Distanz gehen zu meinen Alltag. Bildlich auf einen Berg steigen, um von oben mein Leben zu sehen: in welchen Zusammenhängen lebe ich, was ist mir wichtig und was habe ich aus dem Blick verloren? Habe ich meine Ziele noch im Blick? Kann ich Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden? Welche Menschen sind aus meinem Blickfeld geraten oder was lähmt mich in meinen Entscheidungen? Für eine solche Sichtweise brauche ich ein waches Auge.

Oder stehe ich in der Gefahr, mich zu überschätzen, meine Kräfte überzustrapazieren, die Erwartungen an mich zu hoch zu legen. Oder verschließe ich die Augen, wie ich all das Elend um mich herum nicht mehr sehen kann.

Wache Menschen haben die Menschheit weitergebracht. Journalisten haben in ihrem Selbstverständnis ein Wächteramt inne, sie legen die Finger auf die Wunden in der Gesellschaft, sie recherchieren, wenn etwas schief läuft. Und wie oft haben gute Journalisten schon Skandale aufgedeckt oder etwas, das unter den Teppich gekehrt wurde, ans Tageslicht gebracht. Die demokratischen Parlamente haben ein Wächteramt, sie kontrollieren die Regierungen, damit auch das Handeln der Regierungen mit den Gesetzen übereinstimmt. Und auch die Kirchen haben ein wachsames Auge und müssen deutlich werden, wenn irgendwo Geld oder Macht so wichtig werden, dass die Menschen dadurch Schaden erleiden und Geld dadurch zu einem Götzen wird. Aber die Kirche muss auch wissen, dass sie selbst gute Wächter braucht, denn sie ist nicht vor Missbrauch, Geldgier und Prunksucht geschützt. Wachsam sein heißt auch aufmerksam werden für das, was die Menschen bewegt, was sie traurig macht, sie blockiert oder was sie leben lässt. Wer wach ist, kann auch den anderen Menschen ins Auge sehen.

Der frische Start ins neue Kirchenjahr, der Advent, bringt uns neue Kraft, wenn wir bereit sind, diese Kraft zu tanken, unsere innere und vielleicht auch die äußere Wohnung aufzuräumen, Platz zu schaffen, freie Sicht zu ermöglichen und unsere Kräfte zu einzuteilen, dass wir diese neue Phase im Leben nicht sofort mit Stöhnen und Klagen beginnen, sondern mit Frische und Zuversicht, weil Gott mit uns wieder neu anfangen will und dafür wache Typen braucht. Und das Symbol dafür ist nicht eine weitere Überwachungskamera, sondern das bescheidene wachsende Licht auf dem Adventskranz.

Reinhard Bürger