Predigt 8. Sonntag im Jahreskreis C 2022

Schwestern und Brüder,

das gerade gehörte Evangelium ist die Fortsetzung des Evangeliums vom letzten Sonntag. Da hatte Jesus klargemacht, welche Verhaltensregeln eine Jüngerin bzw. einen Jünger Christi ausmachen: die Feinde zu lieben und nicht zu richten – denn sie sollen ja von der Liebe und Menschenfreundlichkeit Gottes Zeugnis geben – und die Liebe Gottes gilt allen Menschen gleich.

Das heutige Evangelium erweitert diesen Gedanken etwas. Es geht um Glaubwürdigkeit. Glaubwürdig Zeugnis geben kann man nur, wenn man sich und sein Verhalten zunächst selbst geprüft hat, sagt das Evangelium.

Kirche wird ja, nicht nur bei Jugendlichen, als eine Institution wahrgenommen, die Weisung gibt, wie Menschen leben sollen – vor allem in Sachen Sexualmoral war man da in der Kirche immer ganz weit vorne…

Kirche ist aber in erster Linie nicht dazu da, zu sagen, wo es lang geht, was man zu tun und zu lassen hat, sondern sie ist da, um zuzuhören und mit den Menschen über ihre Glaubensfragen und Glaubensnöte zu sprechen.  Spätestens seit dem Bekanntwerden der Missbrauchsfälle wissen wir, daß wir als Kirche keine guten Zuhörer sind – zumindest hat man den Opfern bis jetzt zu wenig zugehört. Viele wollen noch immer den Balken im eigenen Auge nicht sehen!

Vor zwölf Jahren sind in Deutschland die ersten Missbrauchsfälle ans Licht gekommen. Und wir stehen mit der Aufarbeitung dieser ganzen schrecklichen Skandale eigentlich erst ganz am Anfang – nach zwölf Jahren! Es wird vertuscht, gelogen, auf die lange Bank geschoben, um ein paar Euro Wiedergutmachung gefeilscht. Akteure sind meist irgendwelche höherrangigen Geistlichen und Bischöfe, die Gutachten zwar in Auftrag geben und entgegennehmen, aber nicht die rechten Konsequenzen ziehen wollen. Das letzte Treffen des Synodalen Weges ist da ein Hoffnungszeichen, wenn auch ein kleines.

Man muß also, das hätte man auch ohne das Gutachten des Erzbistums München diagnostizieren können, von einem strukturellen Problem in der Kirche sprechen, d.h. das Problem liegt nicht in einzelnen Personen, sondern darin, wie Kirche sich organisiert hat. Der Fehler liegt in der Organisation, im System.

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Ich fahre seit fast zwanzig Jahren mindestens einmal im Jahr in den Urlaub an den Bodensee und dann jedes Mal auch einen Tag in die Stadt Konstanz, weil diese Stadt noch immer einen ganz besonderen Geist atmet, wie ich finde. Konstanz war zu Anfang des 15. Jahrhunderts einmal eine Stadt, auf die die Welt gesehen hat. Hier gab es im 15. Jahrhundert für kurze Zeit einmal ein Zeitfenster, in dem die Chance bestand, daß Kirche sich ganz anders entwickelt, als sie es getan hat – nicht monarchisch organisiert, sondern demokratisch.

Seit den 1380er Jahren gab es einen tiefen Riss in der Kirche: es gab zwei Päpste: Gregor und Benedikt. Die beiden wurden von unterschiedlichen politischen Richtungen und verschiedenen europäischen Staaten unterstützt, die jeweils „ihren“ Papst für den rechtmäßigen hielten.

Innerkirchliche Kräfte erkennen den unhaltbaren Missstand dieser Kirchenspaltung und berufen 1409 ein Konzil, eine Kirchenversammlung, nach Pisa ein, um diesen Missstand zu beheben. Aber die innerkirchlichen Kräfte waren zwar guten Willens, sind aber zu schwach, zu zerstritten. Kaum ist das Konzil eröffnet, wird es wieder beendet, allerdings gibt es jetzt neben Gregor und Benedikt einen dritten Papst: Johannes.

1410 wird König Sigismund zum deutschen König gewählt. Einer seiner Titel ist „Anwalt und Verteidiger der Kirche.“ Diese Rolle nimmt Sigismund ernst und beruft für das Jahr 1414 eigenmächtig erneut ein Konzil ein – und zwar nach Konstanz. Papst Johannes schließt sich widerwillig, auf Druck des Königs, dieser Einladung an.

Wie das so ist, wenn Menschen mit unterschiedlichen Meinungen zusammenkommen, braucht es einige Zeit, bis man sich auf eine Arbeitsweise und eine gerechte Aufteilung der zu schaffenden Ämter geeinigt hat.

Auch Papst Johannes war, in der Hoffnung, daß das Konzil ihn zum rechtmäßigen Papst erklärt, nach Konstanz gekommen. Als er merkt, daß die Konzilsteilnehmer nicht bereit waren, ihn einfach „abzunicken“, flieht er aus der Stadt, weil er meint, das werde das Konzil scheitern lassen. Aber da hatte er sich geirrt – die Flucht des Papstes gibt den Konzilsteilnehmern echten Auftrieb. Der berühmte Theologe Jean Gerson von der Pariser Universität wies den  Konzilsteilnehmer eine neue, papstunabhängige Legitimation zu:

Nicht der Papst, sondern Christus, bilde das oberste Haupt der Kirche und eine Generalversammlung, ein Konzil, sei weniger vom Papst als vielmehr vom Heiligen Geist eingesetzt. Und auch der Papst sei dem Geist Gottes zu Gehorsam verpflichtet! Deswegen könne ein Konzil tagen und Beschlüsse fassen, auch wenn der Papst nicht ausdrücklich dazu eingeladen habe – insbesondere dann, wenn eine schwerwiegende Frage der Kirchenleitung zu entscheiden sei und der Papst sich weigere, ein Konzil einzuberufen. Diese Sichtweise auf die Kirchenleitung nennt man „Konziliarismus“ und ist festgehalten im berühmten Dekret Haec sancta.

Mit diesem großen Selbstbewußtsein bemühte sich das Konzil nun darum, die drei amtierenden Päpste zum Rücktritt zu bewegen. Einer gab freiwillig auf, weil man ihn mit einem gut dotierten Posten im italienischen Staat abfand, die anderen beiden werden abgesetzt und zu Irrlehrern erklärt, weil sie starrsinnig den Glaubensgrundsatz von der Einheit der Kirche leugneten. Im Jahre 1417 wählt das Konzil Martin V. zum neuen Papst. Damit war ein Ziel des Bodenseekonzils erreicht: die 39 Jahre dauernde Kirchenspaltung war beendet.

Das ist das erste Verdienst von Konstanz: der Konziliarismus, eine Demokratisierung und Emanzipation von Rom hatte sich durchgesetzt.

Kaum vorstellbar, wie die Kirche heute aussähe, wenn sich Konstanz durchgesetzt hätte: wenn ein Konzil sich sogar für die Reform der Kirche an Leib und Gliedern zuständig sieht, auch wenn der Papst es nicht einberufen hat und dieser sich den Beschlüssen am Ende sogar beugen müßte… Der Synodale Weg, sozusagen ein Nationalkonzil bei uns in Deutschland,  ist von diesem Geist von Konstanz geprägt…

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Neben der Einigung der Kirche war dem Konzil ein anderes großes Ziel die Reform der Kirche. Für dieses Ziel steht das Dekret Fequens. In ihm wird festgehalten, daß für „eine Reformierung der Deformierung“ der Kirche, wie das Dekret sagt, regelmäßige Konzilien wichtig seien. Man bestimmt „für immer“ einen regelmäßigen Turnus von Generalversammlungen. Fünf Jahre nach Konstanz müsse man sich zum nächsten Konzil treffen, danach wieder nach sieben Jahren und dann immer alle zehn Jahre. Den Ort des nächsten Konzils müsse der Papst schon einen Monat vor Beendigung des laufenden Konzils bekanntgeben.

Mit dieser klaren Bestimmung war die Einberufung eines Konzils dem Belieben der zukünftigen Päpste entzogen. Ein Konzil wird so zu einer periodische Veranstaltung, „die entweder im Gange ist…oder Dank des bevorstehenden Termins in Aussicht.“, wie das Dekret schreibt.

Konzilsbeschlüsse sind eigentlich bindend…Was aber aus dem Dekret Frequens geworden ist, ist leicht zu beantworten, wenn wir überlegen, daß das letzte Konzil 1965 geendet hat. Nur der vom Konstanzer Konzil gewählte Papst Martin hielt sich an den festgelegten Turnus und lud für 1423 und 1431 nach Pavia bzw. Basel zu einem Konzil ein. Die nächsten Konzilien fanden 1512-17, 1545-63, 1869/70 und eben 1962-65 statt. Von einer regelmäßigen Zehn-Jahres-Frequens ist da wohl nicht zu sprechen. Der Papst alleine entschied alles. Die katholische Theologie hat viel Energie darauf verwendet, zu erklären, warum es gar nicht so schlimm ist, daß es diese regelmäßigen Konzilien nicht gab und verwies auf die Sonderstellung von Konstanz und erklärte somit das Dekret Frequens zum Notstandsgesetz, das wieder außer Kraft gesetzt worden war, nachdem die Krise behoben war. Der Papst war wieder Monarch der Kirche und ist es bis heute…

Wieder kann man sich fragen, wie unsere Kirche heute wohl aussähe, wenn es diese regelmäßigen Konzilien gegeben hätte, wenn man regelmäßig auf Probleme und falsch eingeschlagene Wege gesehen hätte, wenn man sich geprüft und korrigiert hätte, wenn man viel mehr zugehört hätte, anstatt immer alles schon zu wissen. Ich wage zu behaupten, es hätte nie eine Reformation gegeben…

Und man muß auch fragen, wie sehr Kirche heute eigentlich noch in die Krise geraten muß, bis wir uns zu einem Konzil entschließen, anstatt einen Papst alles allein regeln zu lassen, der zwar oft markige Worte findet, aber am Ende immer den Weg des geringsten Widerstandes geht und einen Teil der Weltkirche immer unzufriedener zurückläßt…

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Schwestern und Brüder,

am Beginn der Predigt habe ich darauf hingewiesen, wie wichtig Jesus im heutigen Evangelium die Glaubwürdigkeit ist. Glaubwürdigkeit erreicht man, wenn man immer wieder auch kritisch mit sich selbst ist und selbst bereit ist, sich zu ändern, so wie das Konstanzer Konzil das wollte. Aus Angst wird in der momentanen Krise Veränderung verweigert, so glaube ich – in Rom und hier bei uns in Deutschland.

Dabei ist die Kirchengeschichte immer auch eine Geschichte der Veränderungen, eine Geschichte der Dynamik, eine Geschichte immer wieder neuer Übersetzungsleistung gewesen: aus dem Judentum in die griechische Welt, aus der Kultur des Mittelmeerraumes zu den Germanen, vom Mittelalter in die Neuzeit und in die Moderne.

Fangen wir hier im Kleinen damit an, glaubwürdig zu bleiben und immer mehr zu werden, indem wir kleine Veränderungen hier vor Ort mutig wagen und unsere neuen Erkenntnisse mutig sagen! Und beten wir immer wieder um eine glaubwürdige, sich ständig reformierende Kirche. Die Welt kann sie gebrauchen!

Amen.