Jede Gesellschaft hat ihre rote Linien, die überschreitet man lieber nicht. Das fängt damit an, dass man in Deutschland eben rechts fährt, in England links. Hält man sich da nicht dran, geht es sehr schnell ins Auge oder an den Geldbeutel. In manchen Ländern gibt es auch Geschichten, um die jeder weiß, aber von denen man nicht spricht. Geschichten von Verbrechen, die geschehen sind, wo bestimmte Gruppen von Menschen an den Rand gedrängt, verfolgt, umgebracht wurden. Darüber zu sprechen, gilt als tabu. Das macht man nicht.
Wer also richtig auffallen will, sodass jeder und jede über dich spricht, der bricht das Tabu. Schlägt auf die Trommel, macht Rabatz. Äfft auf der Bühne Behinderte nach, gibt den Ausländern Schuld an allem, bezeichnet die Lehrer als faule Säcke und so fort. Die Rattenfänger und Brandstifter unserer Tage tun das. Sie brechen ganz gezielt die Tabus. Und kommen groß raus, machen Schlagzeilen. Ob dabei Menschen auf der Strecke bleiben, Risse entstehen zwischen den Menschen, Gräben aufreißen in der Gesellschaft, das kümmert sie nicht. Wieder mal „Wir gegen die“, koste, was es wolle.
Auf ihre ganz eigenen Kosten geht die Krankheit der Frau, von der Markus erzählt. Schon zwölf Jahre leidet sie, hat alles gemacht, keine Kosten gescheut. Ihr Vermögen ist aufgebraucht und das muss anfangs doch schon beachtlich gewesen sein. Denn über all die Jahre Ärzte zu bezahlen, das kann sich nur jemand leisten, der was auf der hohen Kante hat, jedenfalls mal hatte. Doch die goldenen Zeiten sind lange vorbei. Die Frau ist buchstäblich ausgeblutet, finanziell und körperlich, nicht einmal ihren Namen kennt man noch. Sie ist sozial abgestürzt und noch dazu unrein. Denn nach dem Buch Exodus galt der Blutfluss als Zeichen als Sünde, und Levitikus erklärt dich als unrein per Gesetz. Und dazu kommt, was immer du berührst, das wird durch dich unrein. Die Frau ist praktisch tabu und es ist für sie tabu, anderes und andere zu berühren.
Was sie also jetzt unternimmt, das ist hochriskant. Sie, die am Rand der Gesellschaft angelangt ist, ganz unten, wo sie aus Sicht ihrer Mitmenschen am besten auch bleiben sollte. Sie mischt sich unter die Menge, unter die Leute, die sich um Jesus drängen. Die Frau ohne Namen, die niemand berühren darf, sie will den berühren, der als Heiliger gilt, selbst um den Preis, eben diesen Heiligen unrein zu machen. Denn nicht nur um sie herum drängt es, geradezu tumultartig. Auch in ihr ist Tumult, drängt es und das so sehr, dass sie alles auf eine Karte setzt und den gezielten Tabubruch begeht.
Als das Heil geschieht, ist Jesus irritiert und auch die Jünger sind verlegen. Aber sofort macht Jesus klar: die Frau hat nichts Böses getan, kein Verbrechen begangen hat. Ein Glaubensakt hat sich ereignet, weil ein Mensch voll Glaube seine Chance ergriffen hat, voller Sehnsucht danach, erlöst zu werden und endlich dem tödlichen Abwärtstrend zu entkommen. Und im Kontakt zu Heiligen ereignet sich diese Erlösung, fließt Kraft, griechisch „dynamis“. Eine neue Dynamik entsteht.
Das hätte auch ganz intim bleiben können, quasi unter Verschluss. Niemand hätte davon Notiz genommen, in dem ganzen Trubel, der da herrscht. Außerdem ist die Frau die einzige, die bemerkt, dass die Blutung endet und das Leiden ein Ende hat. Umso aufgeregter, ja verängstigter ist sie, als Jesus sie in die Mitte des Geschehens holt, in die Öffentlichkeit rückt.
Das körperliche Leid endet, die soziale Ausgrenzung hört auf. Aber es ist noch mehr: die Frau ist Teil, das macht Jesus jedem und jeder deutlich, von etwas Neuem, Teil der neuen Familie, die von Gott ausgeht: „Meine Tochter“ bist du jetzt, du Frau ohne Namen, geheilt, erlöst, angenommen und aufgenommen in eine Gemeinschaft, die bleibt und dich trägt. Und so wird deutlich, dass Erlösung nicht nur das Individuum betrifft, sondern immer auch eine soziale, letztlich politische Dimension hat.
Bei alldem hat sich nun aber die Situation im Haus des Jairus zugespitzt. Denn die Tochter ist inzwischen nicht mehr todkrank; mittlerweile ist sie gestorben. Jesus, den die Leute als Lehrer bezeichnen, kommt zu spät. Ihn zu bemühen, ist unnötige Liebesmüh‘. Für die Leute ist die Geschichte gegessen und nun setzt ein, was eben geschehen muss, was man eben so macht, weil es sich gehört. Das Dorf kommt zusammen, es wird geklagt, geschluchzt, geschrien und geheult. So war das vorgesehen, wenn es um einen Todesfall im Haus eines der angesehensten Bürger geht. Einen, der sich qua Amt ja selber und beruflich damit beschäftigt, dass es ordentlich zugeht, im religiösen Bereich, im Haus des Herrn.
Aber das, was man tut, was sich gehört, das interessiert Jesus nicht. Für ihn ist das nur Getue, peinlich und oberflächlich. Die Leute sollen das alles sein lassen und ihre „Show“ einstellen. Wie bei der Frau vorher geht es ihm um den Menschen, der leidet, und darum dass ihm oder ihr geholfen wird, ein gutes Leben wieder möglich wird. Das aber verstehen die Leute nicht und vielleicht interessiert sie es auch nicht. Sie lachen ihn aus. Jesus ist für sie kein Lehrer, sondern ein Spinner, ein Fantast. Kurze Zeit später wird ihnen das Lachen im Hals stecken bleiben.
In der Zeit dazwischen ist Jesus nur mit einer kleinen Gruppe zusammen. Petrus, Jakobus und Johannes nimmt er mit ins Haus, und Jairus natürlich. Und dann kommt auch dessen Frau, die Mutter der Toten hinzu. Sie sind hautnah dabei, als Jesus auf Tuchfühlung geht. Sie hören, wie er geradezu im Befehlston das Mädchen ins Leben zurückruft, zurückholt. Jesus bittet nicht, er diskutiert nicht. Jesus spricht – und Leben geschieht. Genauso wie Gott bei der Erschaffung der Welt. Auch dort spricht der Herr und die Schöpfung entsteht. Sie entsteht, weil Gott es will, weil Gott das Leben liebt.
Und wie bei der Heilung der Blutflüssigen belässt es Jesus nicht bei der Tat, sei sie auch noch so bemerkenswert. Nicht die Leute, seien sie fassungslos oder nicht, erstaunt oder begeistert, interessieren ihn. Jesus geht es um das Mädchen, dessen ganz konkrete Verfassung hier und jetzt: „Gebt ihr etwas zu essen!“ Sie soll wieder zu Kräften kommen, damit die Familie wieder ganz wird, neu beginnen kann.
Petrus, Jakobus und Johannes werden nur ein einziges Mal erwähnt. Sie erleben die Heilung der Frau, Jesu Auseinandersetzung mit den Leuten und wie Jesus gottgleich das Mädchen von Tod auferweckt. Petrus, Jakobus und Johannes begleiten ihn weiter und sie – und nur sie – nimmt er mit auf den Berg, wo Gott Jesus als seinen Sohn offenbart. Auf dem Berg gewährt er ihnen einen Vorgeschmack der künftigen Herrlichkeit, auch um sie auszurüsten für die Zeit des Leidens und den Weg zum Kreuz. Für Petrus, Jakobus und Johannes bilden die Stunden, von denen unser Evangelium erzählt, eine wesentliche Station voller tiefer Erfahrungen und Erlebnisse. Wie sie damit umgehen, das bleibt im Hintergrund, jedenfalls für jetzt.
Für immer aber werden sie es nicht für sich behalten können. Wer solche Erfahrungen gemacht hat, wer erlebt hat und weiß, wie leidenschaftlich liebevoll Gott auf Tuchfühlung geht, wie restlos entschieden er für seine Schöpfung eintritt, wie endlos konsequent er liebt und das Leben will, der kann das nicht für sich behalten und der sollte das auch nicht. Nicht die Jünger damals und wir heute auch nicht.