Predigt Christkönig A 2020

Schwestern und Brüder,

Wenn man mit pflegenden Angehörigen spricht und sie einem schildern, wie ihr Tag so abläuft, wie schwer das alles ist und wie wenig Zeit für den Pfleger selbst bleibt, dann wird man ganz oft ganz demütig. Und wenn man pflegende Angehörige fragt, woher sie die Kraft für diese große Belastung schöpfen, dann bekommt man ganz oft die Antwort: „Das ist keine Belastung, das ist doch mein Mann.“ „Das tue ich gerne, sie ist doch meine Mutter.“

Natürlich ist Pflegearbeit schwer, körperlich und emotional – und trotzdem korrigieren einen Angehörigen ganz häufig: Das ist meine Frau, mein Mann und keine Last!

Nur, wer so unverbildet ist, dass er diesen Unterschied nachvollziehen kann, kann auch mit dem Evangelium des heutigen Tages etwas anfangen. Viermal wird da mehr oder weniger das Gleiche gesagt. Eine sprachliche Zumutung, an der wir merken sollen, dass das Gesagte selbst eine Zumutung ist:

Wenn wir einem Hungrigen was zu essen geben, dann haben wir Jesus einen Dienst erwiesen.

Wer einem Wohnungslosen Obdach gibt, hat Jesus Obdach gegeben.

Wenn jemand nichts anzuziehen hat und wir geben ihm etwas, haben wir Jesus etwas gegeben.

Wenn einer krank ist und wir gehen hin und nehmen Anteil, dann erweisen wir Jesus einen Dienst.

Wenn einer im Gefängnis sitzt und ein anderer geht hin und lässt ihn Solidarität erfahren, dann haben wir das auch Jesus getan.

Und wer solche und ähnlich Dienste verweigert, der verweigert sie Jesus. Und daran, wie wir zum Menschen Jesus stehen wird sichtbar, wie wir zu Gott stehen.

Ein aufregendes Evangelium: Alles, was wir einander Gutes tun oder uns verweigern, das berührt Gott selbst! So sehr, so ganz und gar steht Gott auf der Seite eines jeden Einzelnen!

Was aber ein solches Gewicht hat, das es sogar Gott selbst berührt, das muss auch das sein, was am Ende über unser ganzes Leben entscheidet. Deswegen ist die Rede Jesu eingebettet in eine Gerichtsszene: Der Menschensohn kommt und trennt Schafe und Böcke – das heißt, Gott wird die Welt ordnen und wird offenbar machen, was gültig ist und was wertlos.

Und wodurch wird ein Leben gültig, so dass es vor Gott Bestand haben kann? Durch die Barmherzigkeit! Vierfach gibt Jesus diese Antwort, damit wirklich in unseren Herzen ankomme, worauf es ankommt für uns: auf die Barmherzigkeit!

Wir wissen alle, wie es sich anfühlt, Barmherzigkeit geschenkt oder verweigert zu bekommen. Wir wissen auch alle, wie es ist, Barmherzigkeit zu schenken oder zu verweigern. Jeder und Jede von uns ist mal Bittender, mal Gebender. Beim Essen, Trinken und Kleidung leuchtet uns das ein, vielleicht auch noch beim Krankebesuchen.

Und was das heißt, Fremde aufzunehmen und ihnen Obdach zu geben, und welch kontroverse Diskussionen das auslöst, das wissen wir spätestens seit der Syrienkrise…

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Das Werk der Barmherzigkeit, das wahrscheinlich kaum jemand von uns wirklich kennt, ist das Werk, Gefangene zu besuchen. Wenn es einer kannte, dann war das Franz Günther Wachtmeister, von dem wir uns in dieser Woche verabschiedet haben. Nachdem er nicht mehr Pfarrer hier in Scharnhorst war, war er viele Jahre Gefängnisseelsorger in der Justizvollzugsanstalt in Werl. Wenn Franz Günther Wachtmeister aus dem Gefängnisalltag erzählte, dann erahnte man, warum Jesus der Besuch bei Gefangenen so wichtig ist. Ohne die Taten und Verbrechen der Gefangenen herunterzuspielen, muss man sagen, dass Gefangenschaft eine absolute Extremsituation ist. Wie wichtig ist es für die Gefangenen, dass die Angehörigen und Freunde auch über dicke Mauern und den Stacheldraht hinweg Kontakt halten; und wie desillusionierend ist es, wenn dieser Kontakt nicht gehalten wird.

Gefängnisseelsorger werden oft gebeten, doch einmal nachzuhören, wann Frau oder Kinder mal wieder zu Besuch kommen oder wenigstens schreiben. Und wie oft passiert es, dass echte Hünen im Gefängnis zusammenbrechen und heulen, wenn ihnen klar wird: Die Partnerin will nichts mehr von ihm wissen und hat sich neu gebunden. Seelsorger können dann damit trösten, dass seine Trauer auch Gottes Trauer ist. „Ich war im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht.“

Das Motiv der Gefangenschaft steckt tief drin in unserer Religion: die zentrale Erzählung von Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt ist bis heute die von der Versklavung des Volkes Israel in Ägypten. Und aus dieser Unheilsgeschichte wird mit göttlicher Hilfe am Roten Meer die Heilsgeschichte des Volkes Israel schlechthin. Und diese jüdische Errettungsgeschichte ist auch Teil unserer christlichen Errettungsgeschichte: Wir hören sie alljährlich im wichtigsten unserer Gottesdienste: in der Osternacht.  – Gott steht auf der Seite der Heimatlosen, Entrechteten und Gefangenen!

Bei seinem ersten Auftreten in der Öffentlichkeit, als er in seiner Heimatsynagoge vorlesen darf, liest Jesus aus dem Buch Jesaja, um zu formulieren, was sein Auftrag ist: „Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze,  und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“ Jesus knüpft an die alle 50 Jahre gefeierten Jubeljahre, die Erlassjahre der Israeliten, in der alle Sklaven freigelassen werden mussten. Jesus sieht in seinem Kommen die endgültige, die allumfassende Befreiung gekommen!

Aber in Jesu Kommen bekommt die Solidarität Gottes mit den Menschen eine neue Qualität: in Jesus erklärt Gott sich nicht nur solidarisch, sondern er identifiziert sich so sehr mit denen, auf die die Gesellschaft herabschaut, dass er einer von ihnen wird. Er wird Mensch mit allem, was zum Menschsein gehört, bis hinein in den Tod. Deswegen kann er sagen: „Ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen bzw. nicht zu mir gekommen.“

Die da im Gefängnis sitzen, die fragen sich ganz häufig:

Wer bin ich? Bin ich überhaupt etwas? Bin ich etwas wert? Habe ich Zukunft? Oder klebt das, was ich getan habe für immer an mir? Alle diese Fragen werden beantwortet im Kommen Jesu. Jesus sagt auch den straffällig gewordenen Gefangenen: „Ich bin auch für euch Mensch geworden. Und wenn ihr ohne Mut und ohne Hoffnung seid, dann kommt zu mir, ich gebe euch Kraft, denn „ich war (selbst) im Gefängnis.“

Dass Jesus, dass Gott, sich an die Seite der Gefangenen stellt, einer von ihnen wird, das verändert alles. Wer immer seine Würde nicht mehr spürt, der weiß jetzt wieder, wer er ist. Der darf sagen: Ich bin Gottes Geschöpf und Gott ist auf meiner Seite, trotz aller Schuld, die ich auf mich geladen haben. Denn Gott liebt nicht die Sünde, aber er liebt den Sünder! Und er schenkt immer neuen Anfang!

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Liebe Schwestern und Brüder,

durch Jesus Christus macht Gott sich selbst zum Anwalt für die Barmherzigkeit der Menschen – für die Barmherzigkeit, die einer braucht und für die Barmherzigkeit, die einer schuldig bleibt. Und kein anderer, als Gott kann dafür Anwalt sein. Denn er ist der Barmherzige, er ist die Barmherzigkeit selbst, dafür steht kein geringerer als sein Sohn Jesus Christus ein!

Seien wir also barmherzig miteinander. Wo wir barmherzig sind, da bricht eine Welt an, in der Christus der Maßgebende, symbolisch gesprochen der König, ist.

Ich glaube, diese Welt suchen wir!

AMEN.