Die meisten Bücher der Bibel sind echte Kunstwerke. Da wurde nicht einfach etwas notiert, sondern da wurde kunstvoll komponiert. Und ein Meisterkomponist ist sicherlich der Evangelist Johannes. Bei ihm beginnt die irdische Geschichte Jesu mit dem Wort Johannes des Täufers: „Seht das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt.“

Und der Evangelist endet die Lebensbeschreibung Jesu mit dem Hinweis darauf, daß Jesus am Kreuz „kein Bein zerbrochen“ wurde. Und das bezieht sich auf eine Bestimmung aus dem Buch Genesis, aus dem wir am Gründonnerstagabend hören: das Lamm, das am jüdischen Osterfest geopfert wird, muss fehlerfrei sein und kein Knochen darf ihm zerbrochen werden.

Johannes weist mit seiner Komposition darauf hin, dass es eine Verbindung gibt zwischen den Osterlämmern, die am Passahfest im Tempel Jerusalems geschlachtet werden, und dem Mann, den man zur selben Zeit auf Golgota kreuzigt. Der wahre Tempel ist also vor der Stadt, dort, wo das wirkliche Lamm geschlachtet wird.

Das Bild von Jesus, dem Lamm, rahmt im Johannesevangelium somit die ganze irdische Geschichte Jesu. Wenn wir zusammen Messe feiern, dann steht das Wort des Täufers: „Seht das Lamm Gottes…“ direkt vor dem Kommunionempfang. Es will den Zusammenhang herstellen zwischen der historischen Passion Jesu und unserer aktuellen Feier. Zugleich will es nochmal einen Augenblick des Innehaltens schaffen, bevor uns das Lamm in die Hand gegeben wird und wir es aufnehmen in uns, bei uns.

Lamm und Herde – das sind alttestamentliche Bilder für das Volk Gottes und seinen Gott-König Jahwe. Das Volk ist Eigentum dieses Gott-Königs, der mit seinem Volk tun dürfte, was er will. Aber dieser Gott-König ist nicht willkürlich, er richtet nicht, er straft nicht, sondern er wird selbst mittragendes, mitleidendes, mitliebendes Lamm. So will Gott den Menschen retten: indem er sich auf unsere Seite stellt! Der Hirte wird Lamm! Immer wenn wir die Kommunion empfangen, passiert das noch immer: er legt sich wehrlos und wortlos in unsere Hand!

Und Jesus gerät da in die Hände und Herzen von Menschen, die viel Potential für das Gute und Schöne in sich tragen, aber genauso viel Potential für das Böse und Abscheuliche. Gottes Wehrlosigkeit ist eine Einladung an uns, ihm unsere Schwachheit anzuvertrauen.

Die Wehrlosigkeit Gottes ruft uns in größerem Maße zur Verantwortung, als es seine Macht könnte. Gottes Wehrlosigkeit verpflichtet uns dazu, in allen Wehrlosen, Bedrängten und Leidenden dieser Welt ihn zu erkennen. Denn: Wem das Lamm sich ausliefert, der darf nicht selbst ein Wolf sein! Der sollte vielmehr versuchen, selbst angstlos Lamm zu werden!

Auf dem Weg mit Jesus durch Leiden und Tod hin zur Auferstehungsfeier wünsche ich Ihnen allen Gottes Segen und Geleit!