Ich bin ein großer Verehrer des heiligen Franziskus. Seine authentische Lebensweise und seine ehrliche Suche, mit dem Evangelium zu leben, haben mich von Kindheit an beeindruckt. Seine Begegnung mit einem Aussätzigen vor den Toren der Stadt Assisi war für mich immer ein gelungenes Beispiel dafür, wie ein Mensch Jesus nachfolgen kann. „Franziskus begegnete eines Tages, als er nahe bei Assisi einen Ritt unternahm, einem Aussätzigen. Und während er sonst gewohnt war, vor Aussätzigen großen Abscheu zu haben, tat er sich jetzt Gewalt an, stieg vom Pferd, reichte dem Aussätzigen ein Geldstück und küsste ihm die Hand. Dann empfing er vom Aussätzigen den Friedenskuss und setzte seinen Ritt fort“, so berichtet es die Lebensbeschreibung des Franziskus.

Bei aller Bewunderung für Franziskus, da kann ich ihm heute nicht mehr folgen. Das Gebot der Stunde heißt: Abstand, Distanz, FFP2-Maske. Der Aussatz in der Antike und im Mittelalter war ebenso bedrohlich wie der neuzeitliche Corona-Virus. Und hier distanziere ich mich entschieden vom heiligen Franz. Ich möchte durch mein persönliches Verhalten dazu beitragen, dass diese Pandemie bekämpft wird. Deshalb werde ich auf Umarmungen verzichten und keinen Friedenskuss geben.

Das macht mich allerdings aufmerksam auf die „Unterscheidung der Geister“: ich möchte genau hinschauen und urteilen, was gut und heilsam ist und was zerstörerisch wirkt. Ein Medikament, das eine bestimmte Krankheit wirksam bekämpft, kann auch unangenehme Nebenwirkungen haben. Und ein Mensch, mit dem ich privat nicht klarkomme, kann mir durchaus im Beruf ein konstruktiver Partner sein. Pauschalurteile werden oft einer Situation oder einem Menschen nicht gerecht. Die Unterscheidung der Geister ist anstrengender, aber in einer undurchsichtigen Situation dringend angesagt. Deshalb ist es gut, im Gespräch mit anderen zu sein, andere Meinungen zu hören, eigene Pläne immer wieder zu überprüfen und meinen eigenen Vogel nicht für den Heiligen Geist zu halten. Es kann heilsam sein, auch dem Gegner etwas Gutes zuzutrauen. Und was vor 700 Jahren vielleicht bespielhaft war, muss es nicht auch heute sein. Deshalb kann ich auch mit Widersprüchen leben und muss sie aushalten. Denn das Leben ist niemals glatt und einfach.