Dreifaltigkeitssonntag (B)
Es waren einmal fünf weise Gelehrte. Sie alle waren blind. Diese Gelehrten wurden von ihrem König auf eine Reise geschickt und sollten herausfinden, was ein Elefant ist. Und so machten sich die Blinden auf die Reise nach Indien. Dort wurden sie von Helfern zu einem Elefanten geführt. Die fünf Gelehrten standen nun um das Tier herum und versuchten, sich durch Ertasten ein Bild von dem Elefanten zu machen. Als sie zurück zu ihrem König kamen, sollten sie ihm nun über den Elefanten berichten.
Der erste Weise hatte am Kopf des Tieres gestanden und den Rüssel des Elefanten betastet. Er sprach: „Ein Elefant ist wie ein langer Arm.“
Der zweite Gelehrte hatte das Ohr des Elefanten ertastet und sprach: „Nein, ein Elefant ist vielmehr wie ein großer Fächer.“
Der dritte Gelehrte sprach: „Aber nein, ein Elefant ist wie eine dicke Säule.“ Er hatte ein Bein des Elefanten berührt.
Der vierte Weise sagte: „Also ich finde, ein Elefant ist wie eine kleine Strippe mit ein paar Haaren am Ende“, denn er hatte nur den Schwanz des Elefanten ertastet.
Und der fünfte Weise berichtete seinem König: „Also ich sage, ein Elefant ist wie eine riesige Masse, mit Rundungen und ein paar Borsten darauf.“ Dieser Gelehrte hatte den Rumpf des Tieres berührt. Und sie stellten fest, jeder hatte nur einen Teil des Elefanten erfasst und geglaubt, den ganzen Elefanten erkannt zu haben.
An diese Geschichte musste ich angesichts des heutigen Dreifaltigkeitssonntags denken. Auch wir versuchen immer wieder den „Elefanten“ Gott zu erfassen und sind dabei wie die Blinden. Es gelingt uns immer nur, ein kleines Stück von ihm zu ertasten. Das fängt schon beim Namen an: Allmächtiger, Schöpfer, Vater, Mutter, Liebe, Richter… Oder Sohn Gottes, Bruder, Herr, Messias, Heiland, Menschensohn, Christus und für den Geist: Helfer, Beistand, Atem Gottes… 99 Namen kennt z. B. der Islam für Gott, weil offenbar ein Name allein nicht ausreicht, ihn zu beschreiben. Wir sollten uns also davor hüten, zu meinen, wir könnten Gott ganz erkennen und beschreiben. Wir können immer nur einen kleinen Ausschnitt ertasten, aber nie seine wirkliche Größe und Ganzheit.
Und die Rede von der Dreifaltigkeit Gottes bringt genau das zum Ausdruck: Wir können Gott nie ganz erkennen und verstehen. Auch die Bibel verwendet z. B. Symbole und Bilder, wenn sie über Gott etwas aussagen wollen. Aber jedes Bild oder Symbol zeigt uns immer nur eine Wirklichkeit, einen Blickwinkel dieses unbegreiflich großen Gottes: die Wolke und die Feuersäule, der brennende Dornbusch, die Taube, der Weinstock, die Tür, das Brot, das Manna, das leise Säuseln, der Atem, der Sturmwind, Feuerzungen, der gute Hirte… Alles Bilder, die uns erahnen lassen, wie Gott ist, die aber immer nur Ausschnitte seiner Wirklichkeit wiedergeben können.
Jeden Gottesdienst beginnen und beenden wir „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“. Und im Glaubensbekenntnis beten wir: Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen. Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn. Ich glaube an den heiligen Geist… Wenn wir so beten bringen wir damit zum Ausdruck: Gott zeigt sich in verschiedenen Personen, die aber zugleich eine Einheit, ein Ganzes bilden. Gott ist zugleich Vielfalt und Einheit in sich. Er ist Schöpfer der Welt, den wir Vater nennen. Er ist uns Bruder geworden in Jesus. Und er ist unser bleibender Beistand. Sein Geist wirkt in uns und in der Welt.
Der „Elefant“ Gott bleibt für uns immer ein großes Geheimnis. Aber dieser Gott will uns nahe sein und für uns erfahrbar sein: Als Vater und Mutter mit allen väterlichen und mütterlichen Eigenschaften der Liebe und des Sich-Sorgens. Als Sohn, der unser Bruder ist und auf Erden lebte, litt und starb. Als Heiliger Geist, die Kraft, die in uns allen ist. Und letztlich ist die Rede von der Dreieinigkeit auch eine Aussage darüber, dass Gott Beziehung, Liebe, Gemeinschaft, Einheit in der Vielfalt ist und diese für die Welt und die Menschen auch will.
Wenn wir uns also zum dreifaltigen und dreieinen Gott bekennen und ihn heute feiern als den, der Vielfalt, Einheit, Liebe, Mutter, Bruder, guter Geist usw. ist, dann muss sich das auswirken in unserem Leben z. B. im Bemühen um gute Beziehungen zwischen Menschen, die einander ernst nehmen; im Bemühen um vorbehaltlose Liebe, die den anderen nimmt, wie er ist; im Bemühen um Einheit, in der aber auch eine Vielfalt möglich ist, in der sich jeder entfalten kann. Das sind die Herausforderungen für uns und unser Zusammenleben, die sich aus dem Glauben an den einen und dreifaltigen Gott ergeben. Daran erinnert uns das heutige Fest.
Amen!
Manfred Morfeld